Zweiter Artikel. Der Ungehorsam ist nicht die schwerste der Sünden.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. 1. Kön. 15. heißt es: „Wie die Sünde des Aberglaubens ist das Widerstreiten und wie das Verbrechen des Götzendienstes nicht zustimmen wollen.“ Der Götzendienst aber ist die schwerste Sünde. II. Jene Sünde ist gegen den heiligen Geist, durch welche die Hindernisse der Sünde entfernt werden. (Kap. 14, Art. 2.) Der ungehorsame aber verachtet die Gebote Gottes, welche doch am meisten den Menschen von der Sünde abziehen. Also ist der Ungehorsam eine Sünde gegen den heiligen Geist. III. „Durch den Ungehorsam eines einzigen sind der Sünder viele geworden,“ heißt es Röm. 5. Die Ursache aber ist stärker wie die Wirkung. Also ist der Ungehorsam eine schwerere Sünde wie alle übrigen. Auf der anderen Seite ist es schwerwiegender, denjenigen, der vorschreibt, zu verachten, wie die Vorschrift. Manche Sünden aber sind gegen die Person des vorschreibenden, wie die Lästerung, der Totschlag. Also ist der Ungehorsam nicht die schwerste Sünde.
b) Ich antworte, nicht jeder Ungehorsam besitze die gleiche Schwere. Denn der eine Ungehorsam ist schwerer wie der andere: 1. von seiten des vorschreibenden her; jedenfalls nämlich muß der Mensch in höherem Grade dem höheren Oberen gehorchen, wenn er auch Sorge tragen muß, jedem Oberen zu folgen; danach ist es schwerer, Gott ungehorsam zu sein wie einem Menschen; — 2. von seiten der Vorschriften her; denn nicht will der Obere, daß alle seine Vorschriften in gleichem Maße erfüllt werden, da jeder Obere in erster Linie bei seinen Vorschriften den Zweck will und was dem Zwecke am nächsten steht; danach ist ein Ungehorsam schwerer, wann die übertretene Vorschrift der Absicht des vorschreibenden mehr entspricht. Wer also dem Gebote der Gottesliebe zuwiderhandelt, der sündigt schwerer, wie jener, der das Gebot der Nächstenliebe verletzt; denn jene ist ein besseres Gut und somit in höherem Grade von Gott gewollt wie diese letztere. Der Wille des Menschen aber ist nicht immer auf das Bessere gerichtet. Wo es sich also um eine rein menschliche Vorschrift handelt, so entsteht nicht eine schwerere Sünde daraus, daß ein besseres Gut beiseite gelassen wird, sondern daraus, daß eine solche Vorschrift mehr vom vorschreibenden beabsichtigt wurde. Also muß man die verschiedenen Grade des Ungehorsams bemessen nach dem verschiedenen Werte der Vorschriften. Denn der Ungehorsam, womit unmittelbar Gottes Gebot verachtet wird, ist auf Grund des Wesenscharakters des Ungehorsams selber eine schwerere Sünde wie der Ungehorsam, womit man eines Menschen Gebot verachtet; wenn im letzteren Falle vom Ungehorsam gegen Gott abgesehen wird, denn wer gegen den Nächsten sündigt, verfehlt sich ja auch mittelbar gegen das Gebot Gottes. Wird nun in einem hauptsächlichen Punkte Gottes Gebot beiseite gelassen, so ist die Sünde noch schwerer. Der Ungehorsam nun, womit das Gebot eines Menschen verachtet wird, ist eine leichtere Sünde wie derjenige, womit der gebietende selber verachtet wird; denn aus der Ehrfurcht vor dem gebietenden mußhervorgehen die Achtung vor dem Gebote. Und ähnlich ist die Sünde womit Gott selber unmittelbar verachtet wird, größer — abgesehen vom Ungehorsam in der Sünde — wie jene Sünde, womit nur ein Gebot Gottes verachtet wird.
c) I. Jener Vergleich drückt nichts als eine Ähnlichkeit aus. Denn der Ungehorsam ist schließlich immer eine Verachtung Gottes ähnlich wie der Götzendienst. II. Nur der hartnäckige, böswillige Ungehorsam ist eine Sünde gegen den heiligen Geist. Nicht nämlich die Verachtung von etwas Beliebigem, was der Sünde als Hindernis entgegensteht, bildet die Sünde gegen den heiligen Geist; sonst würde „gegen den heiligen Geist sündigen“ überhaupt bedeuten, „irgend ein Gut verachten,“ da durch jedes Gut der Mensch in der Sünde gehindert werden kann. Vielmehr macht die Verachtung jener Güter eine Sünde gegen den heiligen Geist aus, welche unmittelbar zur Buße und zum Nachlasse der Sünde führen. III. Die erste Sünde war kein Ungehorsam, soweit dieser der Gattung nach eine besondere Sünde ist; sondern sie war Stolz, und daraus folgte der Ungehorsam. Der Apostel also nimmt in dieser Stelle Ungehorsam als etwas allgemein zu jeder Sünde Zugehöriges.
