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Œuvres Thomas d'Aquin (1225-1274) Summe der Theologie
Secunda Pars Secundae Partis
Quaestio 120

Erster Artikel. Die Billigkeit ist eine Tugend.

a) Dies ist nicht so. Denn: I. Keine Tugend nimmt eine andere hinweg. Die Billigkeit aber nimmt fort die strenge Gerechtigkeit nach dem Gesetze. Also ist sie keine Tugend. II. Augustin sagt (de vera Relig. 31.): „Diese menschlichen Gesetzr werden zwar von den Menschen aufgestellt; sind sie aber einmal bestmmt und veröffentlicht, so darf der Richter nicht über sie urteilen, sondern gemäß ihnen.“ III. Der Billigkeit kommt es zu, in einem Einzelfalle vom bestehenden Gesetze abzusehen und die Absicht des Gesetzgebers zu berücksichtigen (5 Ethic. 10.) Das aber ist Sache des Fürsten, die Absicht des gebers zu erläutern, wie der Kaiser sagt (de Leg. et Constit. Princ.leg. 1.): „Zwischen der Billigkeit und dem strengen Gesetze liegt uns allein es ob, zu unterscheiden.“ Also ist der Akt der Billigkeit unerlaubt und somit letztere keine Tugend. Auf der anderen Seite zählt Aristoteles (5 Ethic. I. c.) sie Tugenden.

b) Ich antworte: Weil die menschlichen Handlungen sich unter einzelnen Umständen vollziehen und somit endlosen Veränderungen zugänglich sind; deshalb ist es nicht möglich, ein Gesetz zu machen, das für jeden betreffenden Fall angewandt werden könnte. Vielmehr berücksichtigen die Gesetzgeber in ihren gesetzgeberischen Arbeiten das, was gewöhnlich vorkommt; und demgemäß erlassen sie Gesetze, die zu befolgen jedoch in manchen Fällen gegen die mit der Gerechtigkeit verträglichen Billigkeit wäre und gegen das vom Gesetze beabsichtigte Gemeinbeste. So z. B. ordnet ein Gesetz an, das anvertraute Gut solle man zurückerstatten, weil dies für gewöhnlich ein Erfordernis der Gerechtigkeit ist; — bisweilen aber würde die Befolgung dieses Gesetzes schädlich sein, wenn z. B. ein rasender in der Raserei das anvertraute Schwert von dem betreffenden zurückforderte; oder wenn man das anvertraute Gut verwenden wollte zur Bekämpfung des Vaterlandes. In solchen Dingen also ist es gut und erfordert, das Gesetz beiseite zu lassen und zu thun, was die gerechte Billigkeit und der allgemeine Nutzen erfordert. Und dazu dient die Billigkeit, die demnach eine Tugend ist.

c) I. Die Billigkeit übersieht nicht das schlechthin Gerechte, sondern nur, soweit dasselbe durch positives Gesetz bestimmt ist. Auch ist sie nicht gegen Strenge, welche, wo es notwendig ist, das Gesetz begleitet. Dem Wortlaute allein des Gesetzes folgen in dem, worin dies nicht geziemt, ist fehlerhaft. Deshalb heißt es (l. c. leg. 5.): „Unzweifelhaft fehlt jener gegen Gesetz, welcher auf die Worte allein des Gesetzes gerichtet gegen den Willen des Gesetzgebers angeht.“ II. Es urteilt über das Gesetz, wer meint, dasselbe sei nicht passend aufgestellt. Wer aber meint, die einfachen Worte des Gesetzes seien im besonderen Falle nicht zu befolgen, urteilt nicht über das Gesetz, sondern über die besondere Angelegenheit, die entgegentritt. III. Die Interpretation oder Erläuterung hat statt im Falle das Gesetz selber zweifelhaft ist, wo man dann die Bestimmung des Staatsoberhauptes einholen muß. In ganz offen vorliegenden Dingen aber bedarf es keiner Erläuterung, sondern nur einer Feststellung für die entsprechende Anwendung.

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