Zweiter Artikel. Die Billigkeit ist ein Teil der Gerechtigkeit.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Die Billigkeit ist zuvörderst kein Teil der besonderen Gerechtigkeit (zwischen Privatpersonen als solchen); sie erstreckt sich nämlich auf alle Tugenden; — sie ist ferner kein Teil der öffentlichen, gesetzlichen Gerechtigkeit; denn sie bestimmt zu etwas im Gesetze nicht Enthaltenen. Also ist sie kein Teil der Gerechtigkeit. II. Aristoteles sagt (5 Ethic. 10.): „Die Billigkeit ist besser wie die Gerechtigkeit;“ also ist sie nicht ein Teil davon d. h. minder wertvoll. III. Die Billigkeit scheint mit der Bescheidenheit zusammenzufallen. Denn wo der lateinische Text von Phil. 4, 5. hat: Modestia vestra nota sit omnibus hominibus, hat der griechische ἐπιείκεια d. h. Billigkeit. Also modestia dasselbe wie Billigkeit und danach ein Teil der Mäßigkeit. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (5 Ethic. 10.): „Die Billigkeit ist etwas Gerechtes.“
b) Ich antworte, es gäbe einen vervollständigenden Teil (integralen) für eine jede Tugend; dann einen Teil, wo das Vermögen und die Kraft der entsprechenden Tugend durchscheint (potentialen); und endlich einen subjektiven Teil, wo die betreffende Tugend ihrem ganzen Wesen nach wie die Art in der Gattung, gewahrt bleibt. Von einem solchen subjektiven Teil nun wird das Ganze dem Wesen nach ausgesagt, er ist aber minder umfassend; wie vom Sinnbegabten im Menschen ausgesagt wird dem ganzen Wesen nach das Vernünftige, insoweit der vernünftige Mensch sinnbegabt ist; das Vernünftige aber erstreckt sich weiter als auf den Menschen nämlich auch auf Gott und auf die Engel. Nicht allein aber in dieser Weise wird etwas seinem Wesen nach vom Anderen ausgesagt, wie das Sinnbegabte vom Esel und dem Ochsen, so daß also die ganze Stufe der Gattung dieselbe bleibt; — sondern auch das Sein wird als Ganzes ausgesagt sowohl von der Substanz als dem vorher und selbständigen Seienden wie ebenso von der hinzutretenden Eigenschaft, dem Accidens, was erst nachher d. h. auf Grund der Substanz ist. So, in der letzten Weise, wird nun von der Billigkeit gesagt, sie sei eine gewisse Gerechtigkeit (l. c.). Also ist die Billigkeit ein subjektiver Teil der Gerechtigkeit. Und von ihr wird die Gerechtigkeit früher ausgesagt wie von der öffentlichen gesetzlichen Gerechtigkeit. Denn die öffentliche gesetzliche Gerechtigkeit wird verwaltet auf Grund und mit Voraussetzung der Billigkeit. Also ist letztere gewissermaßen eine höhere Regel der menschlichen Handlungen.
c) I. Die Billigkeit entspricht der öffentlichen, durch Gesetze geregelten Gerechtigkeit; sie ist aber einerseits in ihr enthalten und geht andererseits über sie hinaus. Denn wenn öffentliche Gerechtigkeit genannt wird jene, die dem Gesetze folgt, sei es daß der Wortlaut in Betracht kommt, sei es daß die Absicht des Gesetzgebers erwogen wird, so ist die Billigkeit ein (der letztgenannte) Teil der Gerechtigkeit und zwar der hauptsächliche. Wird aber öffentliche Gerechtigkeit genannt jene, welche nur den Wortlaut des Gesetzes berücksichtigt, so ist davon nicht die Billigkeit ein Teil; sondern dieselbe alsdann ein Teil der Gerechtigkeit, die gemeinhin so genannt wird, und geht über die öffentliche Gerechtigkeit hinaus. II. Aristoteles meint: Wer den Sinn des Gesetzes beachtet, sei besser wie jener, der nur die mechanischen Worte für maßgebend hält. „Gerechtigkeit“ heißt da nicht „jede Gerechtigkeit“, sondern die öffentliche. III. Die Billigkeit giebt das Maß an für die Befolgung der Worte des Gesetzes. Die Bescheidenheit aber regelt als Teil der Mäßigkeit das äußere Leben des Menschen im Gehen, in der Kleidung etc. Der griechische Name kann ganz wohl auf alles Maßvolle überhaupt übertragen werden.
