Zweiter Artikel. Furchtlos sein ist im Gegensatze zur Stärke.
a) Dies scheint nun gar nicht. Denn: I. Kein Akt der Stärke wird gehindert dadurch, daß jemand furchtlos ist; vielmehr greift einer kühn an, wenn er ohne Furcht ist. Also besteht kein Gegensatz II. Furchtlos sein ist ein Fehler entweder wegen des Mangels an gebührender Liebe oder wegen Hochmuts oder wegen Dummheit. Da ist aber wohl ein Gegensatz zur Liebe, Demut, Weisheit; nicht aber zur Stärke. III. Von einer Seite steht der Stärke entgegen die Furcht, von der anderen die Kühnheit; also die Furchtlosigkeit in keiner Weise. Auf der anderen Seite stellt Aristoteles (3 Ethic. 7.) die Furchtlosigkeit gegenüber der Stärke.
b) Ich antworte, die Stärke erstrecke sich auf Furcht und Kühnheit. Also gehört es der Stärke an, der Furcht ein Maß zu setzen gemäß der Vernunft, daß nämlich der Mensch wisse, was und wann er zu fürchten habe. Dieses Maß nun kann überschritten werden ebenso gut wie nicht erreicht werden. Wie also die Furchtsamkeit der Stärke entgegentritt auf Grund des Übermaßes an Furcht, so die Furchtlosigkeit auf Grund des Mangels an Furcht, wonach jemand nicht fürchtet, was und wann er fürchten soll.
c) I. Der Akt der Stärke besteht darin, gemäß der Vernunft dem Tode entgegenzutreten oder selben zu leiden; — was bei der Furchtlosigkeit nicht der Fall ist. II. Die Furchtlosigkeit in ihrem Wesen übertritt die von der Stärke gezogene rechte Mitte; also ist sie direkt derselben entgegen. Nach ihren Ursachen kann sie im Gegensatze zu anderen Tugenden stehen. IV. Die Kühnheit als Fehler ist ein Übermaß der Kühnheit und deshalb der Stärke zuwider; die Furchtlosigkeit ist ein Mangel an Furcht. Die Stärke aber bezeichnet in beiden Leidenschaften die rechte Mitte.
