Erster Artikel. Vermessenheit ist eine Sünde.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Phil. 3. sagt der Apostel: „Was hinter mir liegt, vergesse ich; auf das hin, was über mir ist, dehne ich mich aus.“ Danach aber zu streben, was über die eigenen Kräfte geht, scheint vermessen zu sein. Also ist Vermessenheit keine Sünde. II. 10 Ethic. 7. sagt Aristoteles: „Nicht gemäß denen, die schmeicheln, soll der da Mensch ist an Menschlichem Gefallen haben, und der da sterblich ist an Vergänglichem, sondern insoweit er kann, soll er Unsterblichem sich zuwenden;“ — und 1 Metaph.: „Zu Göttlichem soll der Mensch sich möglichst wenden.“ Göttliches und Unsterbliches aber ist über dem Menschen. Also ist es Vermessenheit, danach zu streben. Nun ist dies löblich. Also ist Vermessenheit keine Sünde. III. 2. Kor. 3. heißt es: „Wir genügen nicht dazu, auch nur etwas zu denken aus uns, wie wenn dies seinen Ursprung in uns hätte.“ Wäre also Vermessenheit, vermöge deren doch jemand nach dem strebt, wozu seine Kräfte nicht genügen, Sünde, so könnte der Mensch nicht einmal etwas Gutes erlaubterweise denken. Auf der anderen Seite heißt es Ekkli. 37.: „O ruchloseste Vermessenheit, von woher bist du geschaffen worden?“ wozu die Glosse bemerkt: „nämlich vom bösen Willen her.“ Also ist Vermessenheit Sünde, da sie vom bösen Willen kommt.
b) Ich antworte, da das, was gemäß der Natur besteht, geregelt ist durch die göttliche Vernunft, welche die menschliche Vernunft nachahmen soll, so sei Alles fehlerhaft und Sünde, was gemäß der Anordnung der menschlichen Vernunft gegen die Ordnung sich richtet, wie sie den natürlichen Dingen mitgeteilt worden. Dies aber findet sich gemeinhin in allen natürlichen Dingen, daß die Thätigkeit eines Dinges genau entspricht dem Maße der ihm entsprechenden wirkenden Kraft; und keine thätige Kraft in der Natur versucht, über den Bereich ihrer Möglichkeit hinaus thätig zu sein. Also ist es fehlerhaft und Sünde, wenn ein Mensch sich anschickt zu thun, was über seine Kräfte geht. Und dies gehört zum Wesenscharakter der Vermessenheit, wie der Name selbst anzeigt; denn der betreffende folgt nicht dem ihm und seinem Thätigsein gegebenen Maße, er vermißt sich.
c) I. Was nicht von einem natürlichen Dinge gewirkt werden kann, dazu kann immerhin dieses Ding ein leidendes, empfangendes Vermögen in sich haben; so hat die Luft nicht in sich die Kraft zu wärmen, kann sie aber vom Feuer her empfangen. Deshalb wäre es vermessen, wenn jemand, der nur eine unvollkommene Tugend hat, sogleich versuchen wollte, was der vollendeten Tugend eigen ist. Aber danach streben, daß er Fortschritte mache in der Tugend, das ist keine Sünde; und demgemäß spricht Paulus. II. Göttliches und Unsterbliches steht gemäß der Natur des Menschen über ihm. Er hat aber das Vermögen der Vernunft, wodurch er sich Unsterblichem und Göttlichem zuwenden kann. Er kann, und so meint dies Aristoteles, kraft der Vernunft und des Willens mit Gott vereinigt werden. III. „Was wir durch Freunde können, das können wir selbst.“ (3 Ethic. 3.) Weil wir also Gutes thun und denken können kraft des göttlichen Beistandes, so geht dies nicht über unser Vermögen hinaus. Vermessen wäre es nur, wenn jemand ein gutes tugendhaftes Werk zu thun sich anschicken wollte ohne die Zuversicht auf den Beistand Gottes.
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