Erster Artikel. Die Grausamkeit ist der Milde entgegengesetzt.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. „Grausam sind,“ nach Seneca (2. de clem. 4.) „jene, die im Strafen das Maß überschreiten.“ Das ist aber der Gegensatz zur Gerechtigkeit. II. Jerem. 6. heißt es: „Grausam ist er und er wird sich nicht erbarmen.“ Also ist da ein Gegensatz zum Erbarmen. III. Die Milde erstreckt sich auf die Verminderung der Strafen; die Grausamkeit aber auf die Entziehung von Wohlthaten, nach Prov. 11.: „Wer grausam ist, weist auch die Verwandten von sich ab.“ Also ist da kein Gegensatz. Auf der anderen Seite sagt Seneca (2. de clem. 4.): „Der Milde steht gegenüber die Grausamkeit, die nichts Anderes ist als eine herbe Härte des Geistes im Verhängen von Strafen.
b) Ich antworte, Grausamkeit sei so viel wie Roheit. Roh aber wird genannt, was nicht gekocht ist. Wie also was durchgekocht ist, einen angenehmen, lieblichen Geschmack zu haben pflegt; so hat das Rohe, Ungekochte einen abstoßenden Geschmack. Nun ist oben gesagt worden, daß die Milde eine gewisse Lieblichkeit und Süße der Seele in sich einschließt, kraft deren jemand die Strafen vermindert. Also ist die Milde entgegengesetzt der Grausamkeit.
c) I. Wie die Minderung der Strafen, welche gemäß der Vernunft sich vollzieht, zur Billigkeit, einer Nebentugend der Gerechtigkeit, gehört; so ist die Lieblichkeit der Hinneigung selber, auf Grund deren der Mensch dazu geneigt ist, zur Milde zugehörig. Und ähnlich ist das Übermaß von Strafen, soweit es das Äußerliche angeht, zur Ungerechtigkeit zugehörig; die Härte des Herzens, kraft deren jemand bereitwillig die Strafen vermehrt, kommt von der Grausamkeit. II. Barmherzigkeit und Milde stimmen darin überein, daß beide vor dem Elende anderer zurückschrecken und es fliehen. Die Barmherzigkeit aber steht dem unglücklichen bei durch Verleihung von Wohlthaten; während die Milde die Strafen vermindert. Und weil die Grausamkeit ein Übermaß im Verhängen von Strafen einschließt, so steht sie im direkten Gegensatze zur Milde wie zur Barmherzigkeit. Wegen der Ähnlichkeit beider jedoch wird bisweilen Grausamkeit für Erbarmungslosigkeit genommen. III. Grausamkeit steht da für Erbarmungslosigkeit; jedoch kann man auch die Entziehung der Wohlthaten selber eine Strafe nennen.
