Zweiter Artikel. Die Grausamkeit ist unterschieden von der Wildheit.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Einer Tugend steht von der nämlichen Seite nur ein Laster gegen über. Der Milde aber steht gegenüber die Grausamkeit und die Wildheit. Also sind beide nur ein Laster. II. 10 Etymol. litt. S. sagt Isidor: „Der da wild ist, hält nur seinen Willen für die Richtschnur der Wahrheit und ohne Rücksicht führt er nach dieser Richtschnur die Gerechtigkeit aus.“ Die Gerechtigkeit ohne Rücksicht ausüben aber ist dasselbe wie nichts von der Strafe nachlassen, was der Grausamkeit zukommt. Also ist Wildheit dasselbe wie Grausamkeit. III. Wie der Tugend ein Laster gegenübersteht gemäß dem „zuviel“, so auch eines gemäß dem „zuwenig.“ Und dieses letztere Laster steht zugleich zur Tugend im Gegensatze wie zum entgegengesetzten Laster des „zu viel“. Die schwächliche Nachsicht aber steht als das „zuwenig“ gegenüber der Wildheit und der Grausamkeit als dem „zuviel“. Denn Gregor sagt (20. moral. 8.): „Es soll Liebe bestehen, aber sie mache nicht weichlich; es bestehe Strenge, aber sie erbittere nicht; es bestehe Eifer, aber kein maßloser; es bestehe Hingebung, aber sie schone nicht mehr als nützlich ist.“ Also ist Wildheit und Grausamkeit dasselbe. Auf der anderen Seite sagt Seneca (2. de clem. 4.): „Der da nicht verletzt ist und trotzdem nicht dem Sünder verzeiht, der ist nicht grausam, sondern wild.“
b) Ich antworte, der Name „Wildheit“ sei der Ähnlichkeit mit den Tieren entnommen, die „wild“ genannt werden. Denn derartige Tiere schaden den Menschen, damit sie sich von deren Fleische nähren; nicht auf Grund einer gerechten Ursache, deren Erwägung die Vernunft allein vornehmen kann. So wird demnach „wild“ jener genannt, der im Strafen nicht eine Schuld des betreffenden berücksichtigt, sondern einzig straft, weil er Freude an des Mitmenschen Qual hat. Danach ist die Wildheit in der Vertierung enthalten. Denn solches Ergötzen ist nicht menschlich, sondern tierisch; und rührt von einer bösen Gewohnheit her oder von der Verderbtheit der Natur wie andere ähnliche solche tierische Neigungen. Die Grausamkeit aber sieht in der Strafe wohl auf die Schuld; aber sie überschreitet das Maß; und so ist sie verschieden von der Wildheit. (7 Ethic. 5.)
c) I. Die Milde ist eine menschliche Tugend. Also steht zu ihr in direktem Gegensatze die Grausamkeit als menschliches Laster. Die Wildheit aber ist ein tierisches Laster. Also steht sie im Gegensatze, wie Aristoteles sagt (7 Ethic.) zur heroischen oder göttlichen, d. h. zur hervorragenden Milde; welche nach uns eine Gabe des heiligen Geistes ist; nämlich die Gabe der Hingebung oder Pietät. II, Gerechtigkeit wird da nicht nach der Wahrheit genommen, sonst wäre es Strenge, sie rücksichtslos einzuhalten; sondern nach dem Eigenwillen. III. Nachlassen im Strafen ist Sünde nur dann, wenn die Gerechtigkeit beiseite gelassen wird. Die Grausamkeit hat ein Übermaß in der Strafe. Die Wildheit giebt gar nicht auf die Gerechtigkeit acht. Schwächliche Nachsicht also steht im Gegensatze zur Grausamkeit, nicht so sehr zur Wildheit.
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