Erster Artikel. Die Bescheidenheit ist em Teil der Mäßgkeit.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Bescheidenheit wird so genannt vom Scheiden oder Bemessen. Jeder Tugend aber ist es eigen, zu scheiden das Gute vom Bösen; und jede Tugend besteht in einer gewissen Abgemessenheit. Also ist die Bescheidenheit eine allgemeine Tugend. II. Das Lob der Mäßigkeit besteht in einem gewissen Maßhalten. Dasselbe besagt aber auch der Name „Bescheidenheit“; nämlich sich zu bescheiden mit dem, was einem gehört. Also ist Bescheidenheit dasselbe wie Mäßigkeit. III. Die Bescheidenheit scheint sich zu äußern im Verhältnisse zum Nächsten; denn Paulus schreibt (2. Tim. 2.): „Der Knecht Gottes soll nicht streiten, sondern sanft sein mit allen und mit Bescheidenheit bessern jene, die der Wahrheit widerstehen.“ Bessern aber die anderen ist ein Akt der Gerechtigkeit oder der Liebe. Also ist die Bescheidenheit ein Teil der Gerechtigkeit oder der Liebe. Auf der anderen Seite zählt Cicero die Bescheidenheit unter den Teilen der Mäßigkeit auf.
b) Ich antworte, die Mäßigkeit sei ein Maßhalten in den schwierigsten Dingen, nämlich in den Begierden nach den Ergötzlichkeiten des Tastsinnes. Wo aber eine Tugend sich mit dem Höchsten im betreffenden Bereiche beschäftigt, da muß eine andere Tugend bestehen, die sich mit dem mittelmäßig Schweren in diesem selben Bereiche beschäftigt; denn Alles, was sisch auf das menschliche Leben bezieht, muß durch Tugenden geregelt sein. Wie also die Prachtliebe da ist für die großen Aufwendungen und die Freigebigkeit für die geringeren, so ist da neben der Mäßigkeit, die sich auf das Schwerste richtet, die Bescheidenheit, welche im minder Schweren maßhält,
c) I. Bisweilen wird ein vielen Wesen gemeinsamer Name jenem unter ihnen als Eigenname gegeben, welches die unterste Stufe einhält; wie der Name „Engel“ als Eigenname der untersten Engelstufe zukommt. So wird auch die Bescheidenheit, die ihrem Namen nach allen Tugenden gemeinsam ist, als Eigenname jener Tugend gegeben, die in geringeren Dingen maßhält. II. Die Mäßigkeit bezieht sich mehr auf heftige Leidenschaften, denen sie ein Maß, d. h. einen Zügel auflegt; die Bescheidenheit auf alle geringeren. III. Die Bescheidenheit wird an dieser Stelle genommen, wie sie allen Tugenden gemeinsam ist.
