Zweiter Artikel. Der Gegenstand der Bescheidenheit.
a) Die Bescheidenheit richtet sich nur auf äußerliche Thätigkeiten. Denn: I. Phil. 4. heißt es: „Euere Bescheidenheit sei bekannt allen Menschen.“ Unsere inneren Leidenschaften aber können nicht anderen bekannt sein. II. Die Tugenden, welche auf die inneren Leidenschaften sich richten, werden unterschieden von der Tugend der Gerechtigkeit, die auf die äußeren Thätigkeiten geht. Die Bescheidenheit aber ist nur eine Tugend. Also geht sie nicht auf die inneren Leidenschaften. III. Nicht ein und dieselbe Tugend beschäftigt sich mit dem zum Begehren im allgemeinen Gehörigen, worauf sich eigentlich die moralischen Tugenden beziehen, und mit dem zur Erkenntnis Gehörigen und mit dem, was die Begehr- und Abwehrkraft angeht. Also kann die Bescheidenheit sich nicht mit diesem Allem befassen, soll sie anders nur eine Tugend sein. Auf der anderen Seite muß man in allem Vorhererwähnten scheiden und maßhalten. Also besteht mit Rücksicht auf dies Alles die Bescheidenheit.
b) Ich antworte, rücksichtlich der Bescheidenheit haben die einen verschieden von den anderen gesprochen. Denn wo sie eine gewisse größere Schwierigkeit bemerkten oder ein besonderes Gute, entzogen sie dies der Bescheidenheit, die ja nur mit Geringerem und minder Schweren sich beschäftige. (Vgl. oben.) Nun ist offenbar die Zügelung der Begierden nach den Ergötzungen des Tastsinnes etwas besonders Schweres. Also haben diese alle die Mäßigkeit von der Bescheidenheit unterschieden. Cicero aber (2. de lnv.) beobachtete, etwas besonders Gutes sei das Maßhalten in den Strafen; deshalb hat er auch die Milde entzogen der Bescheidenheit und nahm letztere an als Richtschnur für das Übrige. Dies ist nun vierfach: 1. das Trachten der Seele nach einem gewissen Vorrange; dies wird gemäßigt durch die Demut; — 2. das Trachten nach Wissen; dies wird gemäßigt durch die Wißbegierde, der da entgegensteht die Neugierde; — 3. die körperlichen Bewegungen und Thätigkeiten; diese werden durch die Eutrapelie gemäßigt, die sich mit dem Spiele und dem angenehmen Äußern beschäftigt; — 4. die Kleider und sonstige äußere Ausstattung. Andere haben andere besondere Tugenden für diese Dinge angenommen, wie Andronicus die Sanftmut, Einfalt, Demut etc. Aristoteles hat mit Rücksicht auf die Spiele die Eutrapelie oder das gute Benehmen. Cicero begreift aber alles Letztgenannte unter der Bescheidenheit. Und so hat die Bescheidenheit zum Gegenstande innere Leidenschaften und äußere Thätigkeiten.
c) I. Der Apostel spricht von der Bescheidenheit in der äußeren Haltung; welche aber wie ein Zeichen die Beschaffenheit der inneren Leidenschaften anzeigt. II. Die Bescheidenheit begreift verschiedene Tugenden, welche auf verschiedene Gegenstände gehen. Jedoch ist keine so große Verschiedenheit zwischen den Teilen der Bescheidenheit untereinander; wie zwischen der Gerechtigkeit, die sich rein mit den Thätigkeiten beschäftigt, und der Mäßigkeit, die innere Leidenschaften zum Gegenstände hat. Denn in jenen Thätigkeiten und Leidenschaften, in welchen von seiten des Gegenstandes oder der Materie keine besondere Schwierigkeit besteht, sondern nur von seiten des Leitens und Mäßigens, ist nur eine Tugend nötig; nämlich gemäß den Gründen des Leitens. III. Damit beantwortet.
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