Zweiter Artikel. Die sinnliche Kenntnis kann Gegenstand der Neugierde sein.
a.) Dies scheint nicht. Denn: I. Wie Einiges durch die Augen erkannt wird, so Anderes durch den Tast- und Geschmacksinn. Mit Bezug auf letzteren aber nimmt man keine Neugierde an, sondern vielmehr Wollust und Gaumenlust. II. Neugierde äußert sich besonders im Anschauen von Spielen. Augustin sagt deshalb (6. Conf. cap. 8.): „Da zufällig ein großes Geschrei der ganzen anwesenden Zuschauerschaft an die Ohren des Alypius drang, öffnete er die Augen besiegt durch die Neugierde.“ Solches Schauen von Schauspielen aber ist wegen der Darstellungen daselbst, welche von Natur ergötzlich sind (Poetica), keine Sünde. III. Neugierde ist es, die Handlungen der Nächsten zu erforschen. Das ist aber keine Sünde, denn Ekkli. 17. wird gesagt: „Einem jeden hat Gott die Sorge für den Mitmenschen aufgetragen.“ Also muß man die Sünde der Neugier nicht in solchen einzelnen sinnlich wahrnehmbaren Besonderheiten suchen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de vera Relig. 38.): „Die Begierde der Augen macht die Menschen neugierig.“ Beda aber sagt zu 1. Joh. 2.: „Die Begierde der Augen macht sich nicht nur geltend in Erlernung der magischen Künste, sondern auch im Anschauen von Schauspielen und im Beobachten und Tadeln der Sünden, welche die Nächsten thun.“ Da also die Begierlichkeit der Augen eine Sünde ist wie der Stolz des Lebens und die Begierlichkeit des Fleisches, so erstreckt sich die Neugierde auch aus sinnlich Wahrnehmbares.
b) Ich antworte, die Sinnenkenntnis habe zum Zwecke: 1. die Erhaltung des Körpers, wie überhaupt bei allen sinnbegabten Wesen; damit man nämlich das Schädliche vermeide und suche das, was dem Wohle des Körpers förderlich ist; — 2. die geistig-vernünftige Kenntnis, zu der die Sinnenkräfte in etwa beitragen. Das Beschäftigen mit sinnlich Wahrnehmbaren und das Bemühen darum ist also fehlerhaft: 1. wenn es, anstatt zu nützen, den Menschen von nützlicher geistiger Betrachtung abwendet; wonach Augustin (10. Conf. cap. 35.) sagt: „Den Hund, der einen Hasen verfolgt, bemerke ich kaum, wenn ich im Cirkus bin. Sehe ich dies aber auf offenem Felde, so gebe ich acht, und jene Jagd wendet mich vielleicht von einem wichtigen, großen Gedanken ab: und wenn Du mich nicht, o Gott, innerlich schnell ermahnst mit Rücksicht auf meine offenbare Schwäche, daß ich aus diesem Anblicke durch irgend eine Betrachtung zu Dir mich erhebe oder das ganze Schauspiel verachte und vorübergehe, stumpft sich leicht mein Denken eitel ab;“ — 2. wenn die sinnliche Wahrnehmung zu etwas Schädlichem führt, wie der begierliche Anblick einer Frau; oder die Erkundigung über die Handlungen der anderen, um sie zu verkleinern. Wer aber regelrecht, aus Notwendigkeit oder um die Wahrheit zu ergründen, auf sinnliche Erscheinungen acht giebt, der übt die Tugend der Wißbegierde mit Rücksicht auf das sinnlich Wahrnehmbare.
c) I. Wollust und Gaumenlust haben zum Gegenstande den Gebrauch der dem Tast- und Geschmacksinne zugänglichen Dinge; die Neugierde aber die Kenntnis, insoweit sie von den Sinnen kommt und Genugthuung gewährt. Sie wird als Begierde der Augen bezeichnet, weil unter allen Sinnen die Augen die hauptsächlichen sind, so daß das „Sehen“ von allen Sinnen ausgesagt wird. (10. Conf. cap. 30.) „Dadurch wird,“ so fährt Augustin fort, „am augenscheinlichsten unterschieden, was man aus Neugierde und was man aus Lust vermittelst der Sinne thut, daß die Lust Schönes, Weichliches, Sanftes, Schmackhaftes begehrt; die Neugierde aber sogar das diesem Entgegengesetzte, nämlich um es zu erfahren und um es zu versuchen; freilich ebenfalls nicht, um davon belästigt zu werden.“ II. Das Anblicken von Schauspielen ist insoweit sündhaft als dadurch die Weichlichkeit, die Lust, die Grausamkeit Nahrung erhält; nämlich durch das, was da dargestellt wird: „Ehebrecher, Schamlose gehen aus solchen Schaustücken hervor,“ sagt Chrysostomus. (6. in Matth.) III. Um anderen zu nützen oder sie zu bessern ihre Handlungen erforschen, das ist lobenswert; oder auch, wenn man dadurch selber im Guten Fortschritte machen will, nach Hebr. 10.: „Betrachtet euch gegenseitig, um euch zur heiligen Liebe anzuregen.“ Um aber zu tadeln oder zu verkleinern andere beobachten, ist sündhaft, nach Prov. 24 : „Suche nicht im Hause des gerechten nach Gottlosigkeit und stelle ihm nicht nach; verderbe nicht seine Ruhe.“
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