Zweiter Artikel. Die Vorschriften über die Nebentugenden der Mässigkeit.
a) Diese Vorschriften sind nicht zulässigerweise hingesetzt. Denn: I. Die zehn Gebote sind gewisse allgemeine Vorschriften des göttlichen Gesetzes. „Der Stolz aber ist der Anfang aller Sünde.“ (Ekkli. 10.) Also mußte zuvörderst der Stolz verboten werden. II. Jene Vorschriften müssen im Dekalog stehen, durch welche die Menschen vorzugsweise hingeneigt werden zur Erfüllung des Gesetzes. Das aber geschieht durch die Demut; denn durch dieselbe wird der Mensch unterwürfig gemacht unter den Willen Gottes. Ebenso bewirkt die Sanftmut, daß er der heiligen Schrift nicht widerspricht. (Aug. 2. de doctr. christ. 7.) Also mußte die Sanftmut und Demut geboten werden. III. Der Ehebruch wird im Dekalog verboten, weil er der Nächsten liebe widerstreitet. Aber auch die ungeregelten körperlichen Bewegungen, welche der Bescheidenheit entgegengesetzt sind, widerstreiten der Nächstenliebe, nach Augustin in seiner Regel: „In allen eueren Bewegungen sei nichts, was den Blick der anderen beleidige.“ Also mußte dergleichen verboten werden. Auf der anderen Seite steht die Autorität der heiligen Schrift.
b) Ich antworte, in sich betrachtet haben wohl die Nebentugenden der Mäßigkeit keine unmittelbare Beziehung zur Liebe Gottes und des Nächsten, sondern vielmehr beschäftigen sie sich mit der Lenkung der innerenLeidenschaften des Menschen selbst. In ihren Wirkungen aber können sie berücksichtigen die Liebe Gottes und des Nächsten. Und danach bestehen einige Gebote, welche die Wirkungen einiger den Nebentugenden der Mäßigkeit entgegengesetzten Laster verbieten oder sich auf das Verbot solcher Laster direkt beziehen. So ist der Zorn, welcher der Sanftmut entgegengesetzt ist, bisweilen die Ursache des Mordes oder der Entziehung der den Eltern gebührenden Ehrfurcht; — und dieses selbe kann auch aus dem Stolze hervorgehen, zumal auch die ersten drei Gebote viele aus Stolz übertreten.
c) I. Der Stolz ist der Ursprung aller Sünde, jedoch verborgen im Herzen; und deshalb wird die in ihm eingeschlossene Unordnung nicht von allen für gewöhnlich bemerkt. Also durfte dessen Verbot nicht unter die zehn Gebote gesetzt werden, welche ja an sich erste, durch sich selbst bekannte, allgemeine Principien sind. II. Gebote, die ihrem Wesen nach dazu dienen, zur Beobachtung des Gesetzes anzuleiten, setzen das Gesetz bereits voraus. Sie können also nicht erste allgemeine Principien des Gesetzes fein wie das bei den zehn Geboten der Fall ist. III. Nur als Zeichen innerer Unordnung, nicht ihrem inneren Wesen nach wie der Mord, der Ehebruch, gehört die Unordnung der äußerlichen Thätigkeiten dazu, den Nächsten zu beleidigen.
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