Zweiter Artikel. Die Notwendigkeit der Menschwerdung zur Erneuerung und Wiederherstellung des Menschengeschlechtes.
a) Es bestand keine Notwendigkeit, daß Gottes Wort Fleisch annehme, damit das Menschengeschlecht erlöst werde. Denn: I. Zum Worte Gottes, da es in aller Vollkommenheit Gott selber ist, trat keinerlei neue Kraft auf Grund der Menschwerdung hinzu. Hat also das fleischgewordene Wort Gott die menschliche Natur erlöst oder wiederhergestellt, so konnte es dies auch thun, ohne Fleisch anzunehmen. II. Zur Wiederherstellung der menschlichen Natur scheint nichts Weiteres erfordert zu sein, wie daß der Mensch genugthue für die Sünde. Der Mensch aber konnte, so scheint es, genugthun für die Sünde; da Gott vom Menschen nicht mehr verlangen darf als dieser leisten kann. Und da Gott in höherem Maße dazu hinneigt, Barmherzigkeit zu üben als zu strafen; so muß Er, wie Er dem Menschen zur Strafe anrechnet den Akt der Sünde, ihm zum Verdienste anrechnen den gegenteiligen Akt. Also bedurfte es dafür nicht der Menschwerdung des göttlichen Wortes. III. Zum Heile des Menschen ist in erster Linie erforderlich, daß Gott die gebührende Ehre erwiesen werde. Deshalb heißt es Malach. 1.: „Wenn ich euer Vater bin, wo ist meine Ehre? Wenn ich der Herr bin, wo ist die Furcht vor mir?“ Aus dem Grunde aber verehren die Menschen in höherem Grade Gott, weil sie Ihn betrachten, soweit Er erhaben ist über Alles und fern von den Sinnen der Menschen, nach Ps. 112.: „Erhaben über alle Völker ist der Herr; und über die Himmel hinaus ragt seine Herrlichkeit“ und gleich darauf: „Wer ist wie der Herr unser Gott?“ was zur Ehrfurcht vor Gott gehört. Also scheint es von der Natur des Menschen aus dem menschlichen Heile nicht zukömmlich zu sein, daß Gott uns ähnlich werde durch die Menschwerdung. Auf der anderen Seite ist das, wodurch das Menschengeschlecht vom Verderben befreit wird, notwendig zum menschlichen Heile. So beschaffen aber ist das Geheimnis der Menschwerdung, nach Joh. 3.: „So hat Gott die Welt geliebt, daß Er seinen Eingebornen Sohn dahingab, damit Keiner, der an Ihn glaubt, verloren gehe, sondern das ewige Leben besitze.“ Also war die Menschwerdung zum Heile des Menschen notwendig.
b) Ich antworte, um zu einem Zwecke zu gelangen, ist etwas in doppelter Weise notwendig: Einmal so, daß ohne dasselbe der Zweck nicht bestehen kann; wie die Speise notwendig ist zur Erhaltung des menschlichen Lebens; — dann so, daß damit besser und entsprechender der Zweck besteht; wie ein Pferd notwendig ist für die Reise. In der erstgenannten Weise war die heilige Menschwerdung keine Notwendigkeit für das Heil der menschlichen Natur. Denn Gott konnte auf Grund seiner allgewaltigen Kraft vielfach andere Art und Weisen finden, um die menschliche Natur wiederherzustellen. In der zweitgenannten Weise aber war es notwendig, daß Gott Fleisch annahm, um die menschliche Natur wiederherzustellen. Deshalb sagt Augustin (13. de Trin. 10.): „Zeigen wir jedoch nun, daß wohl eine andere Weise, den Menschen zu erlösen, für Gott möglich war, dessen allwaltender Kraft Alles gleichermaßen unterliegt; aber um unser Elend zu heilen, gab es keine zukömmlichere Art und Weise.“ Und dies kann erwogen werden: 1. Mit Rücksicht auf den Fortschritt des Menschen im Guten; und zwar
a) mit Rücksicht auf den Glauben, welcher dadurch zuverlässiger wird, daß der Mensch Gott selber glaubt, der zu ihm spricht, wie Augustin sagt (11. de civ. Dei 2.): „Damit der Mensch mit mehr Zutrauen gemäß der Wahrheit wandle, hat die ewige Wahrheit selber, der menschgewordene Sohn Gottes, den Glauben festgestellt und begründet;“ —
b) mit Rücksicht auf die Hoffnung, nach Augustin (13. de Trin. I. c.): „Nichts war so notwendig, um unsere Hoffnung auszurichten, als daß uns dargethan würde, wie sehr uns Gott liebe. Welches Zeichen kann aber offenbarer diese Liebe ausdrücken als daß der Sohn Gottes selber in die engste Gemeinschaft mit unserer Natur treten wollte;“ —
c) mit Rücksicht auf die Liebe, welche durch dieses Geheimnis im höchsten Grade geweckt wird, so daß Augustin (de catechiz. rudib. 4.) sagt: „Wo wäre eine höhere Ursache für die Ankunft des Herrn zu finden als darin, daß Gott zeigen wollte seine Liebe zu uns unter uns selber. . . Wenn es also verdrießt zu lieben, so verdrieße es wenigstens nicht, Gegenliebe zu beweisen;“ —
d) mit Rücksicht aus das gute, zweckgemäße Wirken, worin der Erlöser uns Beispiel ward; wonach Augustin sagt (serm. 22. de Temp.): „Man sollte dem Menschen nicht folgen, den man sah; man sollte Gott folgen, den man nicht sah. Damit also dem Menschen vorgestellt werde wer gesehen werden könnte vom Menschen und dem der Mensch folgen dürfte, ist Gott Mensch geworden;“ —
e) mit Rücksicht auf die volle Teilnahme an der Gottheit, worin der letzte Endzweck des menschlichen Lebens besteht; und diese Teilnahme ist uns geworden durch die Menschheit Christi. Denn Augustin sagt (serm. 13. de Temp.): „Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott würde.“ 2. Dies ist nützlich, um das Übel fernzuhalten. Denn
a) wird durch dieses Geheimnis dahin unterrichtet, daß er nicht den Teufel sich selber vorziehe und ihn, der da als Urheber der Sünde dasteht, verehre. Daher sagt Augustin (13. de Trin. 17.): „Da nun in der Weise die menschliche Natur mit Gott verbunden ward, daß eine einige Person ausbeiden erstand, so sollen jene stolzen Geister es nicht wagen, sich dem Menschen voranzustellen, weil sie ohne Fleisch sind;“ — dann werden wir
b) darüber belehrt, wie hoch die Würde der menschlichen Natur sei, so daß Augustin schreibt (de vera relig. c. 16.): „Gott hat gezeigt, einen wie hohen Platz unter den Kreaturen einnimmt die menschliche, dadurch daß Er den Menschen erschien als wahrer Mensch;“ und Leo der Große sagt (serm. 1. de nativ.): „Erkenne an, o Christ, deine Würde; und Teilhaber geworden an der göttlichen Natur, wolle nicht vermittelst entarteter Sitten zu der alten Niedrigkeit zurückkehren;“ — es wird
c), „um dem menschlichen Vermessen entgegenzutreten, die Gnade Gottes im Menschen Christus empfohlen, insoweit in uns keine Verdienste ihr vorhergehen“ (Aug. 13. de Trin. 17.); — kann
d) „der menschliche Hochmut, welcher das größte Hindernis bildet, um Gott anzuhängen, durch so große Erniedrigung Gottes, als das was er ist gezeigt und geheilt werden“ (l. c.); — wird
e) der Mensch befreit von der Knechtschaft der Sünde, was nach Augustin (13. de Trin. 13.) „so geschehen mußte, daß der Teufel durch die Gerechtigkeit des Menschen Jesus Christus überwunden würde.“ Dies geschah dadurch, daß Christus für uns genugthat. Ein bloßer Mensch nämlich konnte nicht genugthun für das ganze Menschengeschlecht; Gott aber geziemte es nicht genugzuthun. Also mußte Jesus Christus zugleich Gott und Mensch sein. Deshalb sagt auch Leo der Große (I. c.): „Von der Kraft wird die Schwäche getragen, von der Majestät die Niedrigkeit, von der Ewigkeit die Sterblichkeit; damit, wie dies sich als Heilmittel für uns geziemte, der eine und nämliche Mittler zwischen Gott und den Menschen sowohl sterben könnte infolge der menschlichen Schwäche als auch auferstehen infolge der göttlichen Majestät. Denn wäre Er nicht wahrer Gott, so würde Er kein Heilmittel uns bringen; wäre Er nicht wahrer Mensch, so böte Er kein Beispiel.“ Zudem bestehen noch überaus viele andere Nützlichkeiten, welche der heiligen Menschwerdung gefolgt sind über die Auffassung des menschlichen Sinnes hinaus.
c) I. Dieser Einwurf geht von der ersten Art des Notwendigen aus, was so beschaffen ist, daß ohnedem der Zweck nicht erreicht werden kann. II. Es kann eine Genugthuung in zweifacher Weise als hinreichend bezeichnet werden: einmal in vollkommener Weise, insofern sie nämlich tatsächlich gleichkommt der begangenen Schuld. Und danach konnte die Genugthuung eines bloßen Menschen für die Sünde nicht hinreichend sein. Denn 1. war die ganze menschliche Natur durch die Sünde verdorben worden; und es konnte deshalb nicht das von einer einzelnen oder auch von mehreren Personen gethaene Gute in der Weise eines dem Umfange der Schuld gleichkommenden Wertes das Verderben der ganzen Natur heben. Sodann hat 2. die gegen Gott begangene Schuld eine gewisse Unendlichkeit auf Grund der Unermeßlichkeit oder Unendlichkeit der göttlichen Majestät, die beleidigt worden; da um so schwerer die Beleidigung ist je höher derjenige steht, welchen man beleidigt hat. Deshalb mußte, sollte anders die Genugthuung eine vollkommene sein, die Handlung des genugthuenden eine unendlich wirksame Kraft haben, nämlich als angehörend jemandem, der zugleich Mensch und Gott sei. Dann kann eine Genugthuung als unvollkommen zureichend bezeichnet werden; wenn nämlich derjenige, dem gegenüber sie geleistet wird, damit sich zufrieden erklärt, wenn sie auch nicht gleichwertig ist; — und so konnte die Genugthuung eines bloßen Menschen hinreichend sein. Weil aber alles Unvollkommene zur Voraussetzung hat als Quelle, woraus es fließt und woes seine Stütze hat ein entsprechend Vollkommenes; so hat alle Genngthuung eines bloßen Menschen ihre Wirksamkeit von der Genngthuung Christi her. III. Gott hat, da Er Fleisch annahm, keine Minderung in seiner Majestät erlitten. Also ist kein Grund vorhanden, daß die Ehrfurcht vor Ihm eine mindere werde. Vielmehr hat Er, da die Ehrfurcht vor Gott vermehrt wird durch die Kenntnis von Gott, die Gründe dieser Ehrfurcht vermehrt, als Er Fleisch annahm und so, uns näher geworden, mehr uns an Sich zog, um Ihn tiefer zu erkennen.
