Fünfter Artikel. Es war nicht zukömmlich, daß Gott vom Beginne der Welt an Fleisch annehme.
a) Das Gegenteil geht aus folgenden Gründen hervor: I. Das Werk der Menschwerdung ging hervor aus der Unermeßlichkeit der göttlichen Liebe, nach Ephes. 2.: „Weil Gott reich ist an Barmherzigkeit, hat Er auf Grund seiner überaus großen Liebe, mit der Er uns liebte, da wir tot waren wegen unserer Sünden, uns belebt in Christo.“ Die Liebe aber gestattet kein Zögern im Gewähren des Beistandes dem Freunde gegenüber, nach Prov. 3.: „Sage nicht zu deinem Freunde: Gehe von hinnen und komme morgen zurück, da werde ich dir geben; so du doch alsbald geben kannst.“ Also durfte Gott nicht zögern mit dem Werke der Menschwerdung; sondern gleich im Beginne mußte Er dem Menschengeschlechts beistehen. II. Nach 1. Tim. 1. „kam Christus in die Welt, um die Sünder zu retten.“ Mehrere aber würden gerettet worden sein, wenn Er gleich im Beginne gekommen wäre; da viele im Verlaufe der Jahrhunderte zu Grunde gegangen sind, weil sie Gott nicht kannten. Also wäre es zukömmlicher gewesen, wenn Gott gleich im Beginne Fleisch angenommen hätte. III. Das Werk der Gnade ist nicht minder geregelt wie das der Natur. Die Natur aber nimmt immer ihren Anfang vom Vollkommenen her, wie Boëtius sagt (3. de consol. prosa 10.). Also mußte das Werk der Gnade im Beginne vollkommen sein. Nun enthält das Werk der Menschwerdung die Vollendung der Gnade, nach Joh. I.: „Das Wort ist Fleisch geworden … voll der Gnade und der Wahrheit.“ Also mußte Gott von Anfang an Fleisch annehmen. Auf der anderen Seite heißt es Gal. 4.: „Aber als die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn,“ wozu die Glosse des Ambrosius bemerkt: „Die Fülle der Zeit ist jene Zeit, welche vom Vater vorausbestimmt war, daß Er da seinen Sohn senden wolle.“ Gott aber hat Alles in seiner Weisheit vorausbestimmt. Also zu der Zeit, die am zukömmlichsten war, ist Gott Mensch geworden; und demnach war es nicht zukömmlich, daß Gott vom Beginne des Menschengeschlechts an Fleisch annahm.
b) Ich antworte; da das Werk der Menschwerdung an erster Stelle zum Zwecke hat die Wiedererneuerung der menschlichen Natur vermittelst der Tilgung der Sünde, so war es offenbar von vornherein nicht zukömmlich, daß Gott Fleisch annahm vor der Sünde im Beginne des Menschengeschlechts; denn nur denen, die krank sind, wird Medizin gegeben. Deshalb sagt der Herr selbst: „Nicht die gesunden bedürfen des Arztes, sondern die kranken; denn nicht bin ich gekommen, die gerechten zu rufen, sondern die Sünder“ (Matth. 9.). Aber auch nicht gleich nach der Sünde war es zukömmlich, daß Gott Fleisch annahm. Und zwar: 1. auf Grund der Beschaffenheit der menschlichen Sünde, welche aus dem Hochmute entstanden war, so daß in der Weise der Mensch befreit werden mußte daß er wohl erkenne, wie er eines Retters und Befreiers bedürfe. Darum sagt zu Gal. 3. (Ordinata per angelos) die Glosse: „Tief war der Ratschluß Gottes, durch den es geschehen ist, daß nach dem Falle des Menschen nicht allsogleich Gottes Sohn gesandt wurde.“ Denn Gott überließ den Menschen zuerst der Freiheit seines Willens im Bereiche des Naturrechts, damit er so die Kräfte seiner Natur erkenne. Als er immer schwächer wurde, erhielt er das Gesetz Mosis, unter welchem noch schwerer wurde die Krankheit; nicht als ob das Gesetz fehlerhaft gewesen wäre, sondern wegen der Schwäche der Natur, damit so der Mensch seine Ohnmacht allseitig erkenne und nach dem Arzte, nämlich nach dem Beistände der göttlichen Gnade, rufe. 2. Auf Grund der Ordnung im Fortschreiten zum Guten hin. Denn danach gelangt man vom Unvollkommenen zum Vollkommenen; wie der Apostel sagt (1. Kor. 15.): „Nicht zuerst das, was geistig ist; sondern was dem Sinne entspricht und darauf das, was geistig ist. Der erste Mensch aus Erde, ein irdischer; der zweite Mensch vom Himmel, ein himmlischer.“ 3. Auf Grund der Würde des fleischgewordenen Wortes; wonach Augustin sagt (tract. 31. in Joan. ad Gal. 4. At ubi venit): „Je höher der Richter steht, der da kommt, eine um so längere Reihe von Herolden geht ihm vorher.“ 4. Damit die Wärme des Glaubens während der zu großen Länge der Zeit nach der Menschwerdung nicht lau werde; denn am Ende der Welt wird erkalten die Liebe vieler. Deshalb heißt es Luk. 18.: „Wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, Er werde Glauben finden auf Erden.“
c) I. Die Liebe schiebt es nicht auf, dem Freunde zu helfen; jedoch immer vorausgesetzt die gute Gelegenheit und die Beschaffenheit der betreffenden Person. Denn wollte der Arzt gleich im Beginne der Krankheit das stärkste Heilmittel geben, so würde er dem kranken schaden anstatt ihm zu helfen. Der Herr also hat das Heilmittel nicht gleich im Beginne dem menschlichen Geschlechte gegeben, damit es dasselbe nicht aus Hochmut verachte, ehe es nämlich seine Krankheit erkännte. II. Darauf antwortet Augustin (ep. 102., de 6. quaest. paganor.): „Zu jener Zeit und dort wollte Christus den Menschen erscheinen und seine Lehre predigen lassen, zu welcher Zeit und wo Er wußte, daß man an Ihn glauben würde. Denn Er wußte vorher, daß zu jenen Zeiten und an jenen Orten, in welchen sein Evangelium nicht gepredigt worden ist, alle bei dieser Predigt so sein würden, wie, wenn nicht alle so doch viele, bei seiner körperlichen Gegenwart waren, die noch nicht an Ihn glauben wollten, trotzdem Er bereits von den toten auferstanden war.“ Jedoch mißbilligt er (in de persev. c. 9.) diese Meinung und schreibt: „Oder können wir sagen, die Tyrier und Sidonier hätten nicht glauben wollen, wenn solche Wunder wie vor den Juden bei ihnen gewirkt worden wären; da Gott selbst bezeugt, sie hätten in aller Demut Buße gewirkt, wenn solche Zeichen und Wunder bei ihnen geschehen wären? Deshalb (c. 11.) muß man mit dem Apostel (Röm. 9.) vielmehr sagen: Nicht dem wollenden und nicht dem laufenden, sondern dem erbarmenden Gotte gebührt alle Ehre. Denen, die Er voraussah, daß sie seinen Wundern, wenn sie bei ihnen geschähen, glauben würden, kam Er zu Hilfe, welchen Er wollte; — anderen aber kam Er nicht zu Hilfe, über welche Er in seiner Vorherbestimmung, geheimnisvoll zwar aber immer gerecht, einen anderen Ratschluß gefaßt hatte. Also glauben wir an seine Barmherzigkeit in denen, die gerettet werden; und an seine Wahrheit in denen, die gestraft werden, ohne im geringsten einen Zweifel zuzulassen.“ III. In Ein und demselben ist immer das Unvollendete früher wie das Vollendete der Zeit nach, obgleich es der Absicht oder der Natur nach später ist. In den verschiedenen Dingen aber ist das Vollendete der Zeit und der Natur nach früher wie das Unvollendete, da ja letzteres durch etwas, was vollendet ist, zur Vollendung geführt werden muß. Der Unvollendung der menschlichen Natur also geht voraus in Gott, der dem Wesen nach von ihr verschieden ist, die ewige Vollendung. Es folgt aber dieser Unvollendung innerhalb der menschlichen Natur selber deren letzte Vollendung in der Einigung mit Gott.
