Sechster Artikel. Die Menschwerdung durfte nicht verschoben werden bis zum Ende der Welt.
a) Dies scheint aber. Denn: I. Ps. 91. heißt es: „Mein Greisenalter,“ d. i. nach der Glosse Augustins zu diesen Worten, mein Letztes „in reicher Barmherzigkeit“. Die Zeit der Menschwerdung aber ist im höchsten Grade die Zeit der Barmherzigkeit, nach Ps. 101.: „Denn es kam die Zeit, daß Er Sich erbarmte.“ Also mußte die Menschwerdung verschoben werden bis zum Ende der Welt. II. Was vollendet ist, das ist in Ein und demselben, wie eben (Art. 5.) gesagt, der Zeit nach später. Nun ist die höchste Vollendung der menschlichen Natur ihre Einigung mit dem Worte, weil „in Christo alle Fülle der Gottheit wohnen wollte“ (Koloss. 1.). Also mußte sie der Zeit nach am spätesten sein. III. Besser geschieht auf einmal, was so geschehen kann, als daß es geteilt wird. Die einige Ankunft Christi aber hätte genügt zur Vollendung der Menschheit, wie solche Vollendung am Ende der Welt sein wird. Also brauchte nicht vor dem Ende der Welt die Menschwerdung stattzufinden. Auf der anderen Seite heißt es (Habak. 3.): „In der Mitte der Zeiten wirst Du offenbarmachen.“ Also durfte das Mittel dieser Offenbarung, die Menschwerdung, nicht bis an das Ende der Zeiten verschoben werden.
b) Ich antworte: Daß, sowie es nicht zukömmlich war, daß Gott im Beginne der Welt Fleisch annahm, ebensowenig dies der Fall ist mit der Annahme, er hätte dies am Ende der Welt thun sollen, erhellt 1. aus der Einigung selber der göttlichen und menschlichen Natur. Denn sowie in Ein und demselben das Unvollendete früher ist wie das Vollendete; so ist, wenn von dem die Rede ist, was im Anderen die Vollendung verursacht, mit Rücksicht darauf das Vollendete früher wie das Unvollendete. Sowie also, kommt allein die menschliche Natur als Ein und dasselbe in Betracht, die durch die Menschwerdung zur höchsten Vollendung gelangt ist, es zukömmlich war, daß das Unvollendete vorherging dem Vollendeten, und deshalb die Menschwerdung nicht im Beginne der menschlichen Natur statthatte; — so ist es auf der anderen Seite zukömmlich, daß die Menschwerdung als wirkende Ursache für die Vollendung der menschlichen Natur, nach Joh. 1.: „von seiner Fülle haben wir alle empfangen,“ nicht verschoben ward bis zum Ende der Welt. Vielmehr wird am Ende der Welt sein die Vollendung der Herrlichkeit, wozu durch das fleischgewordene Wort die menschliche Natur hingeleitet werden soll. Es erhellt das Nämliche 2. aus der Wirkung des menschlichen Heiles. Denn, heißt es bei Augustin (de Qq. vet. et nov. Test. q. 83.), „es steht dies beim gebenden, wann und in welchem Umfange er sich erbarmen will. Er kam also, wann Er wußte, daß nun der Beistand notwendig sei und daß die Wohlthat angenehm sein werde. Als nämlich wie auf Grund einer Krankheit im menschlichen Geschlechte die Kenntnis Gottes unter den Menschen abzunehmen anfing und die Sitten sich verkehrten, hat Gott sich gewürdigt, den Abraham auszuwählen, in welchem die Form und Richtschnur sich finden sollte für die erneuerte Kenntnis Gottes und für die Sittlichkeit. Und als noch mehr die Verehrung Gottes nachließ, gab Er durch Moses sein Gesetz. Und weil die Völker dasselbe verachteten und auch jene, die es empfangen hatten, dasselbe nicht beobachteten, sandte Er, von Barmherzigkeit angetrieben, seinen Sohn, damit dieser den Nachlaß der Sünden allen gewähre und sie gerechtfertigt Gott dem Vater darbringe.“ Würde aber dieses Heilmittel verschoben worden sein bis an das Ende der Welt, so würde die gute Sitte und die Kenntnis Gottes ganz und gar, zugleich mit der Ehrfurcht vor Gott, auf Erden verschwunden sein. Dasselbe erhellt 3. aus dem Offenbarwerden der göttlichen Macht, welche in mehrfacher Weise den Menschen errettete; sowohl nämlich durch den Glauben an den kommenden Erlöser wie durch den Glauben an den gegenwärtigen und den an den gekommen seienden.
c) I. Jene Glosse spricht von der Vollendung der Herrlichkeit. Soll sie aber auf die Barmherzigkeit bezogen werden, welche dem Menschengeschlechte dargeboten ward durch die Menschwerdung Christi; so kann die Zeit der Menschwerdung (nach Aug. I. Retr. 26.) verglichen werden mit der Jugendzeit des Menschengeschlechts „wegen der Kraft und der Glut des Glaubens, der durch die Liebe thätig ist“; mit dem Greisenalter aber, welche die sechste Zeitepoche des menschlichen Lebens ist, wegen der Zahl der Zeitepochen, welche der Ankunft Christi, der in dem sechsten Zeitalter kam, vorangegangen sind. Nun kann wohl nicht im Körper zugleich Jugend- und Greisenalter sich zusammenfinden, jedoch ganz gut in der Seele: die Jugend nämlich aus Grund der geistigen Lebendigkeit, das Greisenalter auf Grund der reifen Überlegung. Deshalb sagt Augustin (I. c. q. 44.), daß „der göttliche Lehrmeister nicht zum Menschengeschlechte kommen mußte außer zur Zeit der Jugend, damit durch seine Nachahmung es zu den besten Sitten herangebildet werde.“ Dagegen schreibt der nämliche heilige Lehrer an anderen Stellen (l. de Gen. cont. Maich. 23.), Christus sei im sechsten Zeitalter des Menschengeschlechts, in dessen Greisenalter also gleichsam, gekommen. II. Die Menschwerdung ist nicht der Abschluß der Vollendung vom Unvollendeten aus, sondern auch das wirkende Prineip von Vollendung im Menschengeschlechte; vgl. oben. III. Darauf antwortet Chrysostomus (hom. 27. sup. Joan. 3. non misit Deus): „Zuerst kam Christus, damit Er die Sünden nachlasse; das zweite Mal wird Er kommen, damit Er richte die Welt. Denn hätte Er es nicht in dieser Weise gemacht, so würden alle verloren gegangen sein; da alle gesündigt haben und der Gnade Gottes bedürfen.“ Also durfte der Herr die Ankunft der Barmherzigkeit nicht verschieben bis zum Ende der Welt.
