Vierter Artikel. Die Menschwerdung Christi war in hervorragenderem Grade darauf gerichtet, die Erbsünde hinwegzunehmen wie die persönliche, aktuelle Sünde.
a) Die Menschwerdung ist vielmehr ein Heilmittel gegen die persönlichen Sünden wie gegen die Erbsünde. Denn: I. Je schwerer eine Sünde ist, desto mehr richtet sie sich gegen das Heil des Menschen. „Die geringste Strafe aber ist der Erbsünde geschuldet,“ sagt Augustin (cont. Julian. 5, 11.). Also ist die Erbsünde geringer wie die persönliche und bedarf somit weniger des Heilmittels der Menschwerdung. II. Nur die Strafe des Verlustes (poena damni), nicht die Strafe der Pein (sensus) ist der Erbsünde geschuldet (nach I., II. Kap. 87, Art. 5 ad II.; vgl. II. dist. 33. q. 2. art. 1.). Christus aber erlitt, um für die Sünder genugzuthun, die Strafe der Pein am Kreuze; und nicht die Strafe des Verlustes, da Er immer der Anschauung Gottes genoß. Also kam Er mehr, um die aktuellen, persönlichen Sünden zu tilgen wie die Erbsünde. III. Nach Chrysostomus (2. de compunct cordis 5.) „ist dies das Zeichen der Zuneigung eines treuen Dieners, daß er die Wohlthaten von seiten seines Herrn, die gemeinsam allen gegeben worden, so ansieht, als ob sie ihm allein verliehen wären.“ Denn wie von sich allein spricht Paulus (Gal. 2.): „Er hat mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben.“ Die aktuellen Sünden aber sind unsere eigenen persönlichen, während die Erbsünde in allen die nämliche, gleiche ist. Also müssen wir in der Weise Zuneigung haben zum Herrn, daß wir erachten, Er sei in erster Linie wegen unserer aktuellen, persönlichen Sünden gestorben. Auf der anderen Seite heißt es bei Joh. 1.: „Siehe das Lamm Gottes, das da hinwegnimmt die Sünde der Welt,“ wozu Beda (him. in octavam Epiph.) bemerkt: „Das heißt die Erbsünde, welche gemeinsam ist der ganzen Welt.“
b) Ich antworte; dies steht vor Allem fest, daß Christus in die Welt gekommen ist, nicht nur um die Erbsünde, sondern um alle anderen Sünden ebenfalls zu tilgen, welche nachher hinzugefügt worden sind. Nicht freilich als ob wirklich alle getilgt würden, was vom Mangel in den Menschen herkommt, nach Joh. 3.: „Das Licht ist in die Welt gekommen; und die Menschen liebten mehr die Finsternisse wie das Licht;“ — sondern vielmehr weil Christus darbot das, was genügend war für die Tilgung aller Sünden. Deshalb heißt es Röm. 5.: „Nicht wie die Sünde, so die Gabe . . .; denn das Gericht ging von der einen Sünde über in alle zu deren Verderben; die Gnade aber rechtfertigt trotz vieler Sünden.“ Jedoch kam der Herr in dem Sinne vorzugsweise in die Welt wegen der Tilgung einer Sünde, insofern jene Sünde als eine größere dasteht. Größer nun wird etwas genannt in doppelter Weise: einmal gemäß der größeren Anspannung, intensive, wie jene Weiße größer ist, die mehr von der weißen Farbe hat; und danach ist die persönliche, aktuelle Sünde größer, denn sie nimmt mehr teil am Freiwilligen (I., II. Kap. 81, Art. 1.); — dann gemäß der größeren Ausdehnung, extensive, wie eine größere Weiße jene ist, die auf einer umfangreicheren Oberfläche sich findet; und danach ist die Erbsünde, welche sich auf das ganze menschliche Geschlecht ausdehnt, größer wie jede aktuelle oder persönliche Sünde, die nur der einzelnen Person angehört. Und mit Rücksicht darauf kam Christus vorzugsweise, um die Erbsünde zu tilgen, insoweit „das Beste der Gesamtheit höher steht und Gott näher ist wie das Beste eines einzelnen,“ nach 1 Ethic. 2.
c) I. Dieser Einwurf geht von der erstgenannten Art Größe der Sünde aus. II. Allerdings gebührt der Erbsünde, soweit es auf das künftige Leben ankommt, nicht die Strafe der Pein, die poena sensus. Die Übel aber, an denen wir in diesem Leben in sinnlich empfindlicher Weise leiden, wie Hunger, Durst, Krankheit, Tod u. dgl. haben in der Erbsünde ihre Quelle. Um also voll ausreichend genugzuthun für die Erbsünde, wollte der Herr in seinem Körper leiden; damit Er den Tod und Ähnliches in Sich selber aufzehre. III. „Jene Worte,“ so antwortet Chrysostomus (1. c. 7.), „sprach der Apostel; nicht als ob Er einschränken wollte die überaus umfangreichen und über die ganze Erde sich ergießenden Gaben Christi, sondern damit er sich an die Stelle aller setze als zugänglich denselben. Denn was liegt daran, daß, was Christus dir gegeben, Er auch allen verliehen, wenn das, was Er dir gegeben, so vollständig, so vollendet ist, als ob es dir allein verliehen worden wäre?“ Daß also jemand die Gaben Christi als seiner eigenen Person gegeben betrachtet; dies schließt nicht aus, daß dieselben nicht auch den anderen verliehen worden sind. Und demnach besteht darin kein Widerspruch mit der Thatsache, daß Christus hauptsächlich gekommen ist, um die Erbsünde zu tilgen und weniger wegen der Sünden einer einzelnen Person. Jene Natursünde aber ist in so vollkommener Weise in einem jeden geheilt worden, als ob sie in ihm allein getilgt worden wäre. Auf Grund der Einheit in der Liebe also muß ein jeder das wie sich allein gegeben betrachten, was allen zu teil geworden ist.
