Zweiter Artikel. Die seligste Jungfrau wurde nicht geheiligt vor der Beseelung.
a) Dagegen spricht: I. Maria wurde weit mehr Gnade zu teil wie einem anderen heiligen. Von Jeremias aber lesen wir: „Bevor ich dich formte im Mutterleibe, kannte ich dich;“ es wird aber vor der Formierung nicht die Seele eingegossen. Und vom Täufer sagt Ambrosius (sup. Luc. c. 11.): „Noch nicht war der Geist des Lebens in ihm und bereits hatte er den Geist der Gnade.“ Also ward um so mehr die Mutter Gottes geheiligt vor der Beseelung. II. Nach Anselm (de conc. virginali c. 18.) „erglänzte Maria in solcher Reinheit, wie eine größere unter Gott nicht aufgefaßt werden kann,“ so daß auf sie angewendet wird die Stelle (Hohel. 4.): „Du bist ganz schön, meine Freundin und ein Flecken ist nicht in Dir.“ Wäre aber von der Ansteckung der Erbsünde Maria ganz frei geblieben, so würde eine größere Reinheit dagewesen sein. Also ward sie vor der Beseelung gereinigt. III. Nur von heiligen feiert man Feste; manche aber feiern das Fest der Empfängnis Maria. Also war sie in ihrer Empfängnis selber heilig. IV. Nach Röm. 5.: „Wenn die Wurzel heilig, so auch die Äste.“ Die Wurzel der Kinder aber sind die Eltern. Also konnte die seligste Jungfrau auch geheiligt werden in ihren Eltern vor der Beseelung. Auf der anderen Seite ist was im Alten Testamente geschah eine Figur für das Neue Testament. Durch die Heiligung des Zeltes aber, von der es heißt (Ps. 45.): „Es heiligte sein Zelt der Höchste,“ scheint bezeichnet zu werden die Heiligung der Gottesmutter, die Zelt Gottes genannt wird, nach Ps. 18.: „In der Sonne hat Er aufgeschlagen sein Zelt.“ Nun heißt es vom heiligen Zelt (Exod. ult. 31.): „Nachdem Alles vollendet war, bedeckte eine Wolle das Zelt des Zeugnisses, und die Herrlichkeit Gottes erfüllte es.“ Also auch die Mutter Gottes ward nicht geheiligt außer nachdem Alles in ihr vollendet war: die Seele und der Leib.
b) Ich antworte; die Heiligung der seligsten Jungfrau kann nicht so genommen werden, als ob dieselbe vor der Beseelung stattgefunden hätte. Denn: 1. die Heiligung, von der hier die Rede ist, besteht in der Reinigung von der Erbsünde; die Heiligkeit ist ja nach 12. de div. nom. nichts Anderes als vollkommene Reinheit. Die Schuld aber kann nur durch die Gnade gereinigt werden und deren Sitz ist allein die vernünftige Kreatur, so daß vor dem Einprägen der vernünftigen Seele die seligste Jungfrau nicht geheiligt worden ist. Sodann ist 2. vor dem Eintritte der vernünftigen Seeledie Frucht nicht der Sündenschuld zugänglich, da nur die vernünftige Seele Sitz der Schuld sein kann. Wäre also wie auch immer die seligste Jungfrau vor der Beseelung geheiligt worden, so hätte sie nicht die Erbsünde gehabt und somit nicht der Erlösung bedurft und des Heiles, welches auf Christo beruht, von dem Matth. 1. es heißt: „Er wird heil machen sein Volk von seinen Sünden.“ Dies ist aber unzulässig, daß Christus nicht der Erlöser aller Menschen ist, nach 1. Tim. 4. Also war die Heiligung Marias nach der Beseelung.
c) I. Der Herr sagt da. Er habe den Jeremias nicht gekannt, bevor Er ihn formte im Mutterleibe, nämlich mit der Kenntnis der Vorherbestimmung; geheiligt hat Er ihn nicht vor dieser Formierung, sondern bevor er verließ den Mutterleib. Ambrosius aber meint unter dem „Geiste des Lebens“ nicht die formende und Leben spendende Seele, sondern soweit der Odem, den man von außen her empfängt, als Geist bezeichnet wird; wie man sagt, er hat den Geist aufgegeben, d. h. er atmet nicht mehr. Oder Johannes hatte noch nicht den Geist, d. h. die Seele, insoweit sie sich durch Thätigkeiten nach außen hin offenbart. II. Wenn Maria niemals angesteckt worden wäre von der Erbsünde, so würde dies gegen die Würde des Herrn als des Erlösers aller verstoßen. Unter dem Erlöser also besaß Maria die größte Reinheit. Denn Christus hatte nie die Erbsünde, sondern war ganz und gar heilig in der Empfängnis, nach Luk. 1.: „Was aus Dir Heiliges geboren werden wird, das wird genannt werden der Sohn Gottes.“ Die seligste Jungfrau aber hatte die Erbsünde, jedoch ward sie vor der Geburt geheiligt. Und dies drückt Job mit den Worten aus: „Sie (die Nacht) möge das Licht erwarten (nämlich Christum) und nicht sehen;“ denn „nichts Beflecktes tritt in sie ein“ (Sap. 7.) „und nicht das Aufgehen der sich erhebenden Morgenröte,“ nämlich der seligsten Jungfrau, die in ihrer Geburt frei war von der Sünde Adams (Job 3.). III. Die Römische Kirche feiert dieses Fest nicht; aber sie duldet dasselbe, soweit es andere Kirchen feiern. Damit ist jedoch nicht ausgedrückt, daß Maria in ihrer Empfängnis heilig war; sondern weil man nicht weiß, zu welcher Zeit sie geheiligt ward, wird mit diesem Feste vielmehr das Fest der Heiligung gefeiert wie das der Empfängnis am Tage der Empfängnis selber. IV. Die Reinigung oder Heiligung der ganzen Natur von Schuld und Strafe wird bei der Auferstehung sich vollziehen. Davon unterschieden ist die persönliche Heiligung, welche nicht übergeht in die nach dem Fleische gezeugte Frucht; weil eine solche Heiligung nicht auf das Fleisch sich richtet, sondern auf die Seele. Mögen also auch die Eltern der seligsten Jungfrau bei der Zeugung von der Erbsünde gereinigt und heilig gewesen sein; so hat doch die seligste Jungfrau die Erbsünde gehabt, denn sie ward empfangen gemäß der fleischlichen Begierlichkeit durch die Verbindung von Mann und Frau. Deshalb sagt Augustin (I. de nupt. et conc. 12.): „Alles Fleisch, was auf Grund der geschlechtlichen Verbindung erzeugt wird, ist Fleisch der Sünde.“
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