Vierter Artikel. Die seligste Jungfrau hat niemals eine aktuelle Sünde gethan.
a) Dies scheint zu viel behauptet. Denn: I. In Maria blieb der Fleischesstachel nach der ersten Reinigung. Die Regung des Fleischesstachels aber ist, falls sie der Vernunft zuvorkommt, auch ohne jegliche Zustimmung, eine, wenn auch sehr leichte Sünde, wie Augustin (de Trin.) sagt. Also war in Maria eine läßliche Sünde. II. Zu Luk. 2. (tuam ipsius animam) sagt Augustin (73 Q. V. et N. T.), daß „die Jungfrau beim Tode des Herrn wie von Staunen ergriffen gezweifelt hat.“ Zweifeln aber im Glauben ist Sünde. Also. III. Zu Matth. 12. (ecce mater tua et fratres hom. 45.) sagt Chrysostomus: „Es ist offenbar, daß sie rein aus Eitelkeit so thaten;“ und zu Joh. 2. (virum non habent hom. 20.): „Sie wollte, daß Er die Gunst der Menschen sich gewinne und sich selbst wollte sie berühmter machen durch den Sohn; vielleicht auch erlitt sie etwas Menschliches wie seine Brüder, die da sagten: Mache Dich doch der Welt offenbar … ; denn noch nicht hatten sie die gebührende Meinung von Ihm.“ Dies Alles aber war sündhaft. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de nat. et grat. 36.): „Ich will nicht, daß man an die Jungfrau Maria denke, wenn von Sünden die Rede ist; es handelt sich da um die Ehre Christi. Denn wir wissen, daß ihr von da her um so mehr Gnade verliehen worden ist, um allseitig die Sünde zu überwinden, weil sie verdiente zu empfangen und zu gebären Jenen, von dem es feststeht, Er habe keinerlei Sünde gehabt.“
b) Ich antworte, daß jene, welche Gott zu etwas auswählt, so vorbereitet und bestimmt, daß sie geeignet werden zu dem, wozu sie ausgewählt sind, nach 2. Kor. 3.: „Er hat uns zu geeigneten Dienern des Neuen Testamentes gemacht.“ Nun war die seligste Jungfrau dazu auserwählt, daß sie Mutter Gottes sei. Und somit ist nicht daran zu zweifeln, daß Gott sie durch seine Gnade dazu gemacht hat, gemäß den Worten des Engels: „Du hast Gnade gefunden bei dem Herrn: Du wirst empfangen …“ Nicht aber wäre sie geeignet gewesen für die Muttergotteswürde, wenn sie bisweilen gesündigt hätte: einmal weil die Ehre der Eltern überfließt auf die Kinder, nach Prov. 17.: „Die Ehre der Kinder geht über auf ihre Eltern,“ und so wäre die Unehre der Mutter auf den Sohn übergeflossen; dann weil sie in einer ganz einzig dastehenden Verwandtschaft zum Herrn stand, der von ihr Fleisch annahm; so aber steht geschrieben (2. Kor. 6.): „Was hat Christus mit Belial zu thun?“ — endlich, weil in ganz besonderer Weise der Sohn Gottes, der die Weisheit Gottes ist, in ihr wohnte; nicht nämlich nur in ihrem Geiste, sondern auch in ihrem Leibe. Sap. 1. aber heißt es: „In eine das Übel wollende Seele tritt nicht ein die Weisheit, und sie wird nicht wohnen in einem Körper, der den Sünden unterworfen ist.“ Und deshalb ist schlechthin zu sagen, die Mutter Gottes habe leine persönliche, aktuelle Sünde begangen; weder eine schwere noch eine läßliche, so daß in dieser Weise an ihr sich erfüllt, was Hohel. 4. steht: „Du bist ganz schön, meine Freundin, und eine Makel ist nicht in Dir.“
c) I. In Maria blieb der fomes, jedoch gebunden; nämlich damit er nicht in irgend eine ungeregelte Bewegung ausbreche, welche der Vernunft zuvorkomme. Dazu wirkte wohl die heiligmachende Gnade mit, aber sie war nicht hinreichend. Sonst würde es ihr durch die Kraft dieser Gnade verliehen worden sein, daß keinerlei von der Vernunft nicht geregelte Bewegung des sinnlichen Teiles in ihr sei; und sonach hätte sie den fomes nicht gehabt. Also muß man sagen, daß das Gebundensein des fomes vervollständigt wurde durch die göttliche Vorsehung, die nicht gestattete, daß eine ungeregelte Bewegung aus dem fomes hervorgehe. II. Origenes (hom. 17. in Luc.) und andere Lehrer erklären dieses Wort des Simeon vom Schmerze, der das Herz Marias durchdrang am Kreuze. Ambrosius aber erklärt, „durch das Schwert werde bezeichnet die Klugheit Marias, die das himmlische Geheimnis wohl kannte. Denn lebendig ist das Wort Gottes und mächtig und schärfer wie das schärfste Schwert.“ Andere verstehen unter dem Schwerte einen Zweifel; freilich nicht einen Zweifel des Unglaubens, sondern der Bewunderung und des Nachforschens. Denn, sagt Basilius (ad Optimum), „die heilige Jungfrau, als sie unter dem Kreuze stand und alles Einzelne schaute, nach dem Zeugnisse des Gabriel, nach der unaussprechlichen Kenntnis des Geheimnisses der göttlichen Empfängnis, nach so vielen großen Wundern, ward erschüttert im Geiste;“ nämlich weil sie sah, wie viel Schimpfliches Er einerseits litt und wie viel Wunderbares Er andererfeits gewirkt hatte. III. Chrysostomus geht da zu weit. Höchstens könnte man ihn dahin erklären, der Herr habe die ungeregelte Begierde der Eitelkeit gezügelt; nicht mit Bezug auf sie selbst, sondern mit Bezug auf das, was von den anderen über sie gedacht werden könnte.
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