Sechster Artikel. Die Buße ist nicht die erste unter allen Tugenden.
a) Dies scheint aber. Denn: I. Zu Matth. 3. (poenitentiam agite) sagt die Glosse: „Die erste Tugend besteht darin, durch die Buße zu vertilgen den alten Menschen und die Laster zu hassen.“ II. Vom einen Endpunkte sich entfernen, ist früher wie herantreten an den anderen Endpunkt. Alle anderen Tugenden aber sind dahin gerichtet, daß der Mensch mehr herantritt an das Gute; durch die Buße allein entfernt er sich vom Bösen. Also ist die Buße die erste unter allen Tugenden. III. Vor der Reue oder Buße ist in der Seele die Sünde und damit zugleich findet sich keine Tugend in der Seele. Keine Tugend also ist vor der Buße in der Seele. Somit ist sie die erste Tugend und öffnet den anderen die Thore der Seele. Auf der anderen Seite geht die Buße aus vom Glauben, von der Hoffnung und der Liebe, wie eben gesagt worden. Also ist sie nicht die erste unter den Tugenden.
b) Ich antworte, unter den Tugenden als Zuständen existiere keine geordnete Reihenfolge gemäß der Zeit; denn alle fangen zugleich an (I., II. Kap. 65, Art. 1.). Die eine ist da früher wie die andere einzig der Natur des inneren Wesenscharakters nach, insofern nämlich die Thätigkeit der einen Tugend zur Voraussetzung hat die Thätigkeit der anderen. Der Zeit nach also nur können manche lobwerte Thätigkeiten vorausgehen der Thätigkeit und dem Zustande der Reue oder Buße; wie z. B. der Akt des von der Liebe nicht geformten Glaubens und der ebenso beschaffenen Hoffnung und der Akt der knechtischen Furcht. Der Akt und Zustand der heiligen Liebe aber ist zugleich der Zeit nach mit dem Akte und Zustande der Buße und mit den Zuständen der anderen Tugenden. Denn nach I. , II. Kap. 113, Art. 3 und 4 ist in der Rechtfertigung des gottlosen zugleich die Bewegung zu Gott hin, die ein Akt des durch die Liebe geformten Glaubens ist; und die Bewegung des Abscheues zur Sünde hin, die da ist ein Akt der Buße. Von diesen beiden Akten aber geht der erstere seinem ganzen Wesenscharakter nach voraus dem zweiten; denn auf Grund der Liebe verabscheut der Mensch die Sünde. So ist also schlechthin, weder der Zeit noch der Abhängigkeit im Wesenscharakter nach, die Buße die erste unter allen Tugenden; denn in letzterer Beziehung gehen ihr voraus die theologischen Tugenden. Nur unter einem besonderen Gesichtspunkte ist sie der Zeit nach die erste unter den übrigen Tugenden; insoweit nämlich ihre Thätigkeit zuerst auftritt bei der Rechtfertigung desgottlosen. Der natürlichen Abhängigkeit im Wesenscharakter nach sind früher die übrigen Tugenden; wie das, was an und für sich, auf Grund des eigenen Wesens, besteht früher ist als das, was nur bedingungsweise oder unter einem gewissen Gesichtspunkte besteht. Denn die übrigen Tugenden sind an und für sich notwendig für das Heil des Menschen; die Buße aber nur unter einer gewissen Voraussetzung, nämlich daß der Mensch in Sünden gefallen ist.
c) I. Der Akt oder die Thätigkeit der Buße ist der Zeit nach an erster Stelle unter den moralischen Tugenden. II. Der Zeit nach und vom beweglichen Subjekte aus ist das Weggehen vom einen Endpunkte früher wie das Herantreten an den anderen, also gemäß der materialen oder bestimmbaren Ursache. Wird die wirkende oder die Zweckursache erwogen, so beabsichtigt die einwirkende Ursache zuerst, an den anderen Endpunkt zu kommen; und somit ist da das Herantreten an diesen früher. Und diese letztere Ordnung tritt in den Vordergrund bei den Akten der Seelenkräfte. III. Die Buße öffnet wohl den Tugenden das Thor der Seele, weil sie die Sünde austreibt durch die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, die der inneren Natur des Wesenscharakters nach früher sind. Sie öffnet aber so, daß die anderen Tugenden zugleich mit ihr eintreten. Denn zugleich mit der freien Willensbewegung zu Gott hin und von der Sünde ab ist der Nachlass der Sünden und die Verleihung der Gnade und die Einprägung aller Tugenden (I., II. Kap. 65, Art. 3.).
