21.
Wie mit dem Gesagten, so verhält es sich auch mit der Verachtung der Ehrenpunkte und mit vielem anderen. Denn glauben mir euer Gnaden: nicht alle, die da meinen, von allem losgeschält zu sein, sind es wirklich, und darum dürfen wir uns keiner Sorglosigkeit hingeben. Und jeder, der vorwärts schreiten will, aber in sich noch die Neigung zu einem Ehrenpunkte fühlt, glaube mir und ruhe nimmer, bis er dieses Hindernis überwunden hat; denn es ist eine Kette, die Gott allein durchfeilt, vorausgesetzt, daß wir beten und durch große Anstrengung auch das Unsrige tun. Nach meinem Dafürhalten ist diese Neigung eine Fessel, die uns hindert auf dem Wege (der Vollkommenheit), und ich staune nur über den Schaden, den sie anrichtet. Ich kenne Personen, die in ihren Werken heilig sind und so Großes vollbringen, daß sie Verwunderung erregen. Aber, o mein Gott! Warum liegen solche Seelen trotzdem noch auf der Erde? Warum haben sie den Gipfel der Vollkommenheit noch nicht erreicht? Was ist die Ursache davon? Was hält jene noch zurück, die so viel für Gott tun? Ach, sie hängen noch an irgendeinem Ehrenpunkte; und was das Schlimmste ist, sie wollen es nicht einsehen, daß sie daran hängen. Der Grund davon ist manchmal der, weil der böse Feind ihnen eingibt, sie seien verpflichtet, ihre Ehre zu schützen. Aber mögen sie mir, dieser Ameise, durch die der Herr zu ihnen reden will, um Gottes willen glauben: wenn sie diese Raupe nicht wegschaffen, so wird sie zwar nicht den ganzen Baum verderben, weil immerhin noch einige angefressene Blätter als Reste der Tugenden bleiben. Aber ein toter Baum ist nicht schön; er gedeiht nicht und läßt auch andere Bäume neben sich nicht gedeihen; denn die Frucht des guten Beispieles, die er hervorbringt, ist nicht gesund und hält sich nicht lange. Ich sage oftmals: mit der eilten Ehre, so unbedeutend sie auch scheinen mag, verhält es sich wie bei dem Orgelspiele. Durch eine einzige verfehlte Note oder durch einen einzigen verfehlten Takt wird die ganze Musik verstimmt. Die Ehrfurcht ist in jeder Hinsicht der Seele sehr schädlich, aber auf dem Wege des Gebetes ist sie eine Pest.
