5.
Schon im Martyrium des Bischofs Polykarp von Smyrna begegnet uns ein Christ aus Phrygien, jenem Lande mit den Menschen voll heißer, oft dunkel wilder Begeisterungsfähigkeit für das Religiöse, denen bereits der Apostel Paulus im Brief nach Kolossai Höhen und Gefahren des christlichen Gedankenflugs, der wahren und falschen Gnosis vor Augen halten mußte. Diese phrygische Mystik, fast möchte man sagen diese Vorliebe für das „Kolossale“, war nicht nur der Nährboden für eine von Kolossai und ganz Phrygien ausgehende missionarische Ausbreitung des Christentums, sondern ebenso für die Verstiegenheiten der im zweiten Jahrhundert dort entstehenden Bewegung des Montanus. Ungezügelte Pneumatik ist ihr Kennzeichen; der fastende, immerdar aus Ergriffenheit betende, das Fleisch verachtende Christ, der sich im unwiderstehlichen Drang seines innerlich redenden Pneumas zum Martyrium drängt: das ist ihr Ideal. Es ist ergreifend, wie schon das Martyrium des Polykarp aus echt christlicher Nüchternheit heraus diese Übertreibungen ablehnt. Man hat auch schon vermutet, daß selbst die Glaubensglut der zum Martyrium sich drängenden Agathonike im Martyrium des Karpos irgendwie mit dem montanistischen Gedanken zu tun hat.
S. 10 Nun führt uns das umfangreichste Dokument unserer Sammlung mit einer Meisterschaft ohnegleichen mitten in diese seltsame Welt der phrygischen Glaubensmission ein: der Martyrerbrief aus Lugdunum in Gallien. Seit langem schon waren die Handelsbeziehungen zwischen Phrygien und dem römischen Westen ungemein lebhaft. Nicht nur Sklaven führte man aus Kleinasien ein — im Martyrium des Justinus begegnet uns der Sklave Euelpistos aus Kappadokien und der aus Ikonium in Phrygien verschleppte Hierax —, sondern man trieb Handel bis an die fernen Ufer der Rhône, wo sich Syrer und Phrygier trafen, um nach dem geheimnisvollen Germanien und Britannien hin ihre Waren umzusetzen. Auf diesen Straßen war auch der Glaube an Christus nach Gallien gezogen. Und die Christen in Vienna und Lugdunum stammten in großer Anzahl aus Phrygien und der Provinz Asien mit der Hauptstadt Ephesus. Dorthin ging denn auch ihr stolzer Bericht über die Verfolgungen, die sie in dem Jahre zwischen 177 und 178 erdulden mußten. Aber auch das aufregende und unheimliche Wehen der montanistischen Geistesbewegung begann an den Ufern der Rhône leise aufzustehen, und es ist von höchstem Reiz, was uns von wahrer und von verdächtiger Mystik aus den lugdunensischen Gefängnissen gleichzeitige Berichte zu melden wissen (Eusebius, Kirchengeschichte V, 3). Dennoch: aufs Ganze gesehen, war das Christentum der Phrygier in Lugdunum unberührt von der schleichenden Vergiftung, lauter und klar wie Kristall S. 11 ist ihre Begeisterung für Christus. Das verdankten sie ihrem herrlichen Presbyter Irenäus, der mit ihnen aus Kleinasien herübergekommen war, wo er einst zu Füßen des Polykarp saß und aus seinem Mund die niemals wieder vergessenen Worte des Apostels Johannes und des fleischgewordenen Wortes hörte. „Alles, was Polykarp erfahren von denen, die Augenzeugen waren des Wortes des Lebens, erzählte er mir, und seine Worte habe ich dank der Gnade Gottes in mich auf genommen; nicht auf Papier, sondern in mein Herz habe ich sie eingeschrieben“, so schreibt er selbst in einem Brief (Eusebius, Kirchengeschichte V, 20). Wenn es nun auch nicht bewiesen werden kann, daß Irenäus selbst den Martyrerbrief aus Lugdunum verfaßt hat, eines ist sicher: In diesem Schreiben pulst das Leben seiner tiefsinnigen Theologie, die er in der ununterbrochenen Kette der Tradition aus dem Zeugnis dessen überkommen hat, der einst schrieb: „Das Wort des Lebens ist erschienen, und wir haben es mit Augen gesehen und mit Händen betastet, und davon legen wir nun Martyrien ab“ (1 Joh. 1, 1 2).
Der Martyrerbrief aus Lugdunum und Irenäus, der bischöfliche Nachfolger des greisen Pothinus, dessen Tod uns hier so ergreifend geschildert wird, müssen gerade uns germanischen Christen besonders teuer sein. Denn von Lugdunum aus ging, wie wir aus dem großen Werk des Irenäus gegen die Häresien seiner Zeit wissen (Adv. haer. I, 10, 2), die frohe Botschaft von Christus in die Länder der S. 12 Germanen, von diesen griechisch sprechenden Christen erhielten wir das heilige und süße Wort „Kirche“.
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