5.
Du bist jung? Sichere deine Jugend mit dem Zaume der Taufe! Ist die Jugendblüte dahin? Hüte dich, daß du nicht die Wegzehrung verlierst, bringe dich nicht um das Schutzmittel und denke nicht von der elften Stunde wie von der ersten1; muß doch schon der, welcher das Leben anfängt, das Ende vor Augen haben. Wenn ein Arzt dir verspräche, er werde dich durch S. 309 gewisse Mittel und Kunstgriffe aus einem Greise wieder zum Jünglinge machen, würdest du dich nicht nach jenem Tage sehnen, an dem du dich zur Jugendblüte zurückkehren sähest? Wo dir aber die Taufe verspricht, deiner gealterten und schuld deiner Sünden durch Runzeln und Flecken entstellten Seele die frühere Blüte wiederzugeben, da verachtest du den Wohltäter und drängst nicht zur Verheißung hin. Willst du denn das große Wunder der Verheißung nicht schauen — wie der Mensch ohne Mutter wiedergeboren wird, wie der „alte und durch trügerische Lüste verderbte Mensch2“ wieder voll Kraft sich verjüngt und zur wahren Jugendblüte zurückkehrt?
Die Taufe ist für Gefangene ein Lösegeld, der Schulden Vergebung, der Sünde Tod, Wiedergeburt des Geistes, ein lichtes Gewand, ein unzerstörbares Siegel, ein Fahrzeug zum Himmel, Vermittlerin des Reiches, das Gnadengeschenk der Kindschaft Gottes. Und so hohen und erhabenen Gütern ziehst du, erbärmlicher Mensch, die Lust vor? Ich kenne deinen Aufschub — trotz deiner Ausreden. Deine Handlungen rufen laut genug, mag auch dein Mund schweigen: „Laß mich das Fleisch zu schändlichem Genusse mißbrauchen, im Schlamme der Wollust mich wälzen, die Hände mit Blut beflecken, fremdes Gut rauben, betrügen, falsch schwören, lügen; und dann, wenn ich einmal an den Lastern genug habe, will ich die Taufe empfangen!“ — Ist denn die Sünde etwas so Schönes? Dann behalte sie bis zum Ende bei! Ist sie aber dem Missetäter zum Schaden, warum verbleibst du bei dem, was schadet? Niemand, der die Galle durch Erbrechen aus dem Körper schaffen will, häuft noch mehr solche in seinem Leibe an durch eine schlechte unordentliche Lebensweise. Reinigen muß man den Körper vom Schädlichen, nicht die Krankheit verschlimmern, bis es zu spät ist. Das Schiff ist solange sichtbar, als es die Last der Ladung zu tragen vermag; wird es überladen, so sinkt es unter. Hüte dich, daß es dir nicht ähnlich ergeht und du vor Erreichung des erhofften Hafens Schiffbruch erleidest, wenn du nämlich S. 310 unverzeihliche Sünden begehst. Sieht Gott nicht, was geschieht, oder kennt er deine Gedanken nicht? Oder fördert er deine Ruchlosigkeit? „Du meintest ruchlos,“ spricht er, „ich sei dir gleich3.“ Bewirbst du dich um die Freundschaft eines Sterblichen, so suchst du ihn durch Güte zu gewinnen; du redest und tust das, worüber er, wie du beobachtest, sich freut. Willst du aber Gott angehören und in seine Kindschaft aufgenommen werden, so tust du, was Gott verhaßt ist, entehrst ihn durch Übertretung des Gebotes und erhoffst die Vereinigung mit ihm auf Grund von Dingen, mit denen du ihn am meisten beleidigst! Sieh zu, daß du nicht in vermessener Hoffnung auf Begnadigung eine Menge Sünden auf dich lädst, die Sünde aufhäufst und der Verzeihung verlustig gehst! „Gott läßt seiner nicht spotten4.“ Treibe mit der Gnade nicht Handel! Sag’ nicht: „Schön ist das Gesetz, aber süßer die Sünde!“ Die Wollust ist die Angel des Teufels und zieht in den Abgrund. Die Wollust ist der Sünde Mutter, die Sünde des Todes Stachel5. Die Wollust ist die Amme des ewigen Wurmes, die eine Zeitlang den Wollüstigen streichelt; nachher aber lohnt sie mit Folgen, die bitterer sind als Galle. Nichts anderes ruft der Aufschub als dies: „Zuerst soll in mir die Sünde herrschen, später einmal mag auch der Herr herrschen. Meine Glieder will ich zu ruchlosen Werkzeugen der Sünde machen6; später einmal will ich sie auch als Werkzeuge der Gerechtigkeit Gott zur Verfügung stellen.“ — In dieser Gesinnung brachte auch Kain seine Opfer dar. Die ersten galten seinem Genusse, die nachfolgenden Gott, dem Schöpfer und Spender. Solange du imstande bist zu wirken, vergeudest du deine Jugend in Sünden. Wenn die Glieder schlaff geworden, dann weihst du sie Gott, wenn sie zu nichts mehr taugen, sondern ruhen müssen, weil mit der Zeit der Naturnachlaß eingetreten und die Kraft geschwunden ist. Im Alter ist Enthaltsamkeit keine Enthaltsamkeit, sondern das S. 311 Unvermögen zur Ausschweifung. Kein Toter wird gekrönt, und niemand ist gerecht wegen des Unvermögens zur Missetat. Solange du Kraft hast, beherrsche die Sünde durch die Vernunft! Denn die Tugend besteht darin, daß man das Böse unterläßt und das Gute tut7. Die Unterlassung des Bösen verdient an sich weder Lob noch Tadel. Lässest du des Alters wegen ab von der Sünde, so gebührt der Dank der Schwäche. Wir loben die freiwillig Guten, nicht die naturnotwendig am Bösen Behinderten.
Indes, wer hat dir die Grenze des Lebens bestimmt? Wer hat dir die Anwartschaft auf ein hohes Alter zugebilligt? Wer ist dir so verlässiger Bürge für die Zukunft? Siehst du nicht, wie Unmündige hinweggerafft, in der Blüte der Jahre Stehende uns entrissen werden? Das Leben hat eben nicht bloß einen Termin. Was willst du die Taufe erhoffen als ein Geschenk des Fiebers? Da kannst du nicht einmal die rettenden Worte aussprechen, vielleicht nicht einmal sie deutlich hören, weil die Krankheit gerade den Kopf einnimmt. Da kannst du die Hände nicht zum Himmel erheben, nicht auf den Füßen stehen, nicht das Knie beugen zum Gebete, nicht mit Nutzen belehrt werden, nicht sicher beichten, nicht mit Gott versöhnt werden, nicht dem Feinde entsagen, vielleicht kaum mit Bewußtsein dem Einweihungsakte folgen, so daß die Anwesenden zweifeln, ob du die Gnade mit Bewußtsein empfangen hast, oder ob du vom Vorgange gar nichts weißt. Wenn du aber auch mit Bewußtsein die Gnade empfangen hättest, dann hast du zwar das Talent, bringst aber keinen (erarbeiteten) Gewinn mit.
