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Der weise Salomon, der die Vorgänge des Lebens auf bestimmte Zeiten verteilt und jeder Betätigung die geeignete Zeit anweist, sagt: „Alles hat seine Zeit, und jedes Ding hat seine Zeit; es gibt eine Zeit der Geburt und eine Zeit des Todes1.“ Ich möchte aber den Ausspruch des Weisen etwas abändern und euch als Verkündiger der Heilslehre sagen: „Es gibt eine Zeit des Todes und eine Zeit der Geburt.“ Weshalb diese S. 302 Versetzung der Worte? Salomon sprach vom Entstehen und Vergehen der Dinge, hielt sich an den Naturlauf der Körperwelt und setzte daher die Geburt vor den Tod; unmöglich kann ja jemand des Todes sterben, der nicht zuvor geboren worden. Ich aber will von der geistigen Wiedergeburt reden; deshalb stelle ich den Tod vor das Leben. Wenn wir nämlich dem Fleische nach sterben, werden wir dem Geiste nach geboren, wie ja auch der Herr sagt: „Ich werde töten und lebendig machen2.“ Laßt uns also sterben, damit wir leben! Laßt uns ertöten den Sinn des Fleisches, der sich dem Gesetze Gottes nicht unterordnen kann3, damit der Sinn des Geistes, durch den Leben und Friede kommen, in uns erstarke! Laßt uns begraben werden mit Christus, der für uns gestorben ist, damit wir mitauferstehen mit ihm, der uns die Auferstehung erwirkt hat4!
Alles und jedes Ding hat also seine Zeit: Der Schlaf hat seine Zeit, und das Wachen hat seine Zeit; der Krieg hat seine Zeit, und der Friede hat die seinige. Die Zeit für die Taufe aber ist das ganze Leben. Wie der Körper nicht leben kann, ohne zu atmen, so kann die Seele nicht bestehen ohne Kenntnis des Schöpfers. Denn Gott nicht kennen, ist der Tod der Seele; und wer nicht getauft ist, ist auch nicht erleuchtet5. Ohne Licht kann aber das Auge die Gegenstände nicht wahrnehmen und die Seele Gott nicht schauen. Jede Zeit ist also wohlgelegen, um die Taufgnade zu empfangen, sei es Tag, sei es Nacht, jedwede Stunde, der kürzeste Augenblick. Als die passendste erscheint freilich die, die mit der Taufe in nächster Beziehung steht. Was steht aber mit der Taufe in innigerem Zusammenhang als der Ostertag? Dieser Tag dient je zur Erinnerung an die Auferstehung; die Taufe aber ist die Kraft zur Auferstehung. Laßt uns daher am Auferstehungstage die Auferstehungsgnade empfangen! Deshalb ruft die Kirche ihre Pfleglinge mit lauter Stimme von fern her zusammen, um denen jetzt S. 303 das Leben zu geben, die sie schon lange mit Wehen getragen, um denen die künftige Kost der Glaubenslehren zu reichen, die sie der Milch des ersten Unterrichtes entwöhnt hat6.
Johannes predigte die Taufe der Buße, und ganz Judäa ging zu ihm hinaus. Der Herr predigte die Taufe der Kindschaft Gottes, und wer von denen, die auf ihn gehofft haben, wird nicht auf ihn hören? Jene Taufe leitete nur ein, diese vollendet. Jene war Abkehr von der Sünde, diese ist Vereinigung mit Gott. Johannes war allein, als er predigte, und zog alle zur Buße hin. Du aber, von den Propheten unterrichtet: „Wascht, reinigt euch7!“, von dem Psalmisten ermahnt: „Kommt zu ihm, und laßt euch erleuchten8!“, von den Aposteln mit der frohen Botschaft beglückt: „Tuet Buße, und ein jeder von euch lasse sich taufen im Namen des Herrn Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, und ihr werdet empfangen die Verheißung des Hl. Geistes9!“, vom Herrn selbst eingeladen: „Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; und ich will euch erquicken10!“ — all das ist ja heute in der Vorlesung zusammengetroffen —, du säumst, überlegst, zögerst? Du, von Kindheit an im Glauben unterrichtet, stimmst der Wahrheit noch nicht bei? Immer lerntest du, und bist noch nicht zur Erkenntnis gekommen! Du prüfst dein ganzes Leben lang, forschest bis zum Greisenalter; wann wirst du ein Christ werden? Wann dürfen wir dich als den Unsrigen begrüßen? Im Vorjahre hast du den gegenwärtigen Zeitpunkt abgewartet; jetzt willst du wieder auf das nächste Jahr warten. Sieh zu, daß du nicht Versprechungen machst über dein Leben hinaus! „Du weißt nicht, was der kommende Tag bringt11.“ Versprich nicht, was nicht dein ist! Zum Leben rufen wir dich, o Mensch. Warum folgst du dem Rufe nicht zur Teilnahme an den Gütern? Warum schmähst du das Geschenk? Das Himmelreich ist geöffnet. Der da einlädt, trügt nicht. Der Weg ist leicht; du hast nicht viel Zeit, nicht Aufwand, nicht Mühe S. 304 nötig. Was besinnst du dich? Was zögerst du? Warum fürchtest du das Joch wie eine Färse, die noch kein Joch getragen? „Es ist süß, es ist leicht12.“ Es schabt den Nacken nicht, sondern ziert ihn. Denn es wird nicht um den Hals gebunden, sondern will freiwillig getragen sein. Siehst du: Ephraim wird angeklagt, daß es wie eine von der Bremse gestochene Färse wild herumirrt, das Joch des Gesetzes verachtend13. Beuge deinen ungebändigten Nacken! Werde ein Jochtier Christi, damit du nicht, ohne Joch und ungebunden im Leben, eine leichte Beute der wilden Tiere werdest.
