10.
Beschränk indes die guten Folgen des Fastens nicht auf die bloße Enthaltung von Speisen! Das wahre Fasten besteht in der Entfernung der Fehler. „Löse alle Bande der Bosheit1!“ Vergib dem Nebenmenschen die Beleidigung! Vergib ihm die Schulden! „Fastet nicht zu Streit und Hader2!“ Fleisch issest du nicht; aber du vertilgest den Bruder. Du enthältst dich des Weines; aber du beherrschest deinen Übermut nicht. Den Abend wartest du ab bis zur Einnahme der Mahlzeit, bringst aber den Tag mit Prozessen zu. Wehe denen, die trunken sind, aber nicht von Wein3! Der Zorn ist eine Trunkenheit der Seele; er macht sie sinnlos wie der Wein. Auch die Traurigkeit ist eine Trunkenheit, die den Verstand ersäuft. Eine andere Trunkenheit ist die Furcht, wenn sie kommt, wo sie nicht angezeigt ist. Denn David sagt: „Vor Feindesfurcht bewahre meine Seele4!“ Überhaupt jede Leidenschaft, die die geistige Verfassung stört, kann füglich als Trunkenheit bezeichnet werden. Betrachte mir den Zornigen, wie er trunken ist von Leidenschaft! Er ist seiner nicht Herr, kennt sich selbst nicht, kennt auch seine Umgebung nicht; wie in einem nächtlichen Kampfe greift er alle an, fällt über alle her, spricht unüberlegt, läßt sich nicht halten, schimpft, schlägt, droht, schreit, berstet fast. Fliehe diese Trunkenheit; aber lad auch die Weintrunkenheit nicht auf dich! Entschädige dich nicht durch übermäßigen S. 179 Weingenuß für das nachfolgende Wassertrinken5! Nicht soll dich die Trunkenheit in das Fasten einweihen. Trunkenheit ist nicht der Weg, der zum Fasten führt, ebensowenig wie die Habsucht ein Weg zur Gerechtigkeit oder die Unzucht ein Weg zur Keuschheit, oder, kurz gesagt, die Schlechtigkeit ein Weg zur Tugend. Zum Fasten führt eine andere Türe. Trunkenheit führt zur Unzucht, zum Fasten Mäßigkeit. Der Kämpfer übt sich vor dem Kampfe; wer fasten will, bereitet sich vor durch Enthaltsamkeit. Trink dir nicht einen Rausch an vor den fünf Tagen6, als wolltest du dich für diese Tage rächen, als wolltest du den Gesetzgeber überlisten! Denn es nützt dir nichts, den Leib zu kasteien, wenn du nicht der Not abhilfst7. Der Keller ist unzuverlässig; du gießest in ein durchlöchertes Faß. Der Wein fließt durch und läuft auf seinem Wege ab; die Sünde aber bleibt zurück. Ein Knecht entläuft einem Herrn, der ihn schlägt; du aber bleibst beim Wein, obschon er dich jeden Tag auf den Kopf schlägt? Das beste Maß für den Weingenuß ist des Körpers Bedürfnis. Gehst du aber über die Grenzen hinaus, so kommst du morgen mit einem schweren Kopfe, gähnend, benommen, vom faulen Weine riechend. Alles scheint sich dir zu drehen, alles in Bewegung zu sein. Denn die Trunkenheit führt den Schlaf herbei, den Bruder des Todes, und ein traumhaftes Wachen.
Is. 58, 6. ↩
Is. 58, 4. ↩
Is. 51, 21; 29, 9. ↩
Ps. 63, 2 [Hebr. Ps. 64, 2]. ↩
Die Unsitte, vor der Fastenzeit sich zu betrinken, wie sie vielfach heute noch fortlebt in den tollen Fastnachtstagen vor dem Aschermittwoch, ist also uralt. ↩
Vgl. die Anmerkung zu Kapitel 8, S. 174. ↩
Das mit der Enthaltsamkeit Ersparte soll den Armen zugute kommen. ↩
