1.
Gestern sprachen wir zum 14. Psalm, konnten aber infolge vorgerückter Stunde mit unserer Rede nicht zum Schlusse komme n1. Heute sind wir nun da, um als ehrliche Schuldner die rückständige Schuld (euch) abzutragen. Was aber noch erübrigt, ist, wie es scheint, rasch angehört und ist vielleicht den meisten aus euch entgangen, so daß sie den Psalmteil2 nicht einmal mißten. Doch wir wissen, dieser kurze Vers3 hat für das praktische Leben eine hohe Bedeutung; deshalb glaubten wir, den Nutzen aus dessen Erörterung nicht beiseite lassen zu dürfen.
Wo der Prophet hier den vollkommenen Mann, der „zum unwandelbaren Leben gelangen4“ soll, schildern will, hat er unter dessen wackere Leistungen auch die gezählt, daß er sein Geld nicht auf Zinsen leiht. Häufig wird in der Schrift diese Sünde gegeißelt. So zählt es Ezechiel zu den größten Verbrechen, Zins zu nehmen und durch Wucher sich zu bereichern5. Und das Gesetz untersagt das ausdrücklich: „Du sollst deinem Bruder und deinem Nächsten nicht auf Zinsen leihen6.“ Wiederum heißt es: „Trug auf Trug, und Wucher über Wucher7.“ Und was sagt der Psalm über eine Stadt, die in einer Flut von Sünden wohlgedeiht? „Nimmer weicht von ihren Straßen Wucher und Betrug8.“ Auch hier vermerkt der Prophet als charakteristisch für den vollkommenen Mann eben das: „Er gab sein Geld nicht auf Wucher9.“ Es ist ja in der Tat mehr als unmenschlich, wenn der, welcher nicht das Lebensnotwendige hat, S. 362 zur Fristung seines Daseins ein Darlehen sucht, der Darleiher aber mit dem Kapital sich nicht begnügt, sondern darauf sinnt, aus der Not des Armen Gewinn zu ziehen und sich Schätze anzuhäufen. Der Herr hat uns doch ausdrücklich geboten: „Wer von dir borgen will, den weise nicht ab10!“ Aber wenn der Geizhals einen Mann in Not sieht, der händeringend vor ihm auf die Knie sinkt — wie verdemütigt ein solcher sich nicht in Wort und Tat! —, so erbarmt er sich des unverschuldet Unglücklichen nicht, er nimmt keine Rücksicht auf seine Lage, hört nicht auf sein Flehen, sondern bleibt unbeugsam und unerbittlich; kein Bitten stimmt ihn um, keine Tränen können ihn erweichen, er beharrt auf seinem „Nein“. Er schwört und beteuert, daß er absolut kein Geld habe und selber nach einem Darleiher sich umsehe. Durch Schwüre sucht er seine Lüge zu beglaubigen und erwuchert sich so den Meineid als schlechten Nebengewinn der Unmenschlichkeit. Sobald aber der, welcher das Darlehen sucht, von Zinsen spricht und Hypotheken nennt, dann legt er die finstere Miene ab, er lächelt zu und spricht etwas von väterlicher Freundschaft. Er nennt ihn seinen guten Bekannten und Freund und sagt: „Wir wollen sehen, ob wir irgendwo Geld haben. Es sind freilich Depositengelder, die ein befreundeter Mann bei uns auf Gewinn angelegt hat. Ja, er hat drückende Zinsen darauf gelegt. Allein wir wollen jedenfalls etwas nachlassen und das Geld gegen geringere Zinsen abgeben.“ Indem er sich so stellt, mit solchen Worten den Unglücklichen streichelt und ködert, fesselt er ihn durch Schuldscheine, raubt dem schon unter der Armut seufzenden Mann auch noch die Freiheit und geht davon. Denn der Mann hat sich zu Zinsen verpflichtet, die er nicht zahlen kann, und hat sich damit für sein ganzes Leben eine freiwillige Knechtschaft aufgebürdet. Sage mir, suchst du Geld und Gewinn bei dem Armen? Wenn er dich reicher machen könnte, hätte er dann vor deiner Türe gebettelt? Um Hilfe kam er; einen Feind fand er. Ein Heilmittel suchte er; Gift ward ihm gereicht. Pflicht wäre es gewesen, des Mannes Armut zu S. 363 lindern; du aber vergrößerst die Not und suchst den Armen vollends auszubeuten. Wie wenn ein Arzt, der zu Kranken geht, anstatt ihnen die Gesundheit zu bringen, ihnen den kleinen Rest ihrer Lebenskraft noch nähme, so machst auch du dir die Notlage der Unglücklichen zur Gewinnquelle. Wie die Landleute zur Mehrung der Samen den Regen wünschen, so wünschest auch du Armut und Not von Leuten, um dein Geld rentabel zu machen. Weißt du nicht, daß das Maß deiner Sünden um so voller wird, je größer der Reichtum, den du mit deinem Wucher erzielst?
Wer das Darlehen sucht, steht vor der einen oder anderen Schwierigkeit: Sieht er auf seine Armut, so möchte er an der Rückzahlung verzweifeln; sieht er auf seine augenblickliche Not, so will er die Aufnahme eines Darlehens riskieren. So gibt er schließlich nach im Hinblick auf seine Not; der Wucherer aber geht davon — mit Schuldscheinen und Pfändern gesichert.
Der erste Teil des Vortrages, bzw. der Psalmerklärung ist uns nicht überliefert. ↩
Gemeint Vers 5 des Psalms 14 [Hebr. Ps. 15]. ↩
Speziell die Worte: „Der sein Geld nicht auf Zinsen leiht.“ ↩
Ps. 14, 5 [Hebr. Ps. 15, 5]. ↩
Ezech. 22, 12. ↩
Deut. 23, 19. ↩
Jer. 9, 6. ↩
Ps. 54, 12 [Hebr. Ps. 55, 12]. ↩
Ps. 14, 5 [Hebr. Ps. 15, 5]. ↩
Matth. 5, 42. ↩
