5.
Hört, ihr Reichen, was wir den Armen angesichts eurer Unmenschlichkeit raten: Lieber mögen sie den Härten des Lebens trotzen, als die furchtbaren Folgen der Zinsen tragen. Doch wenn ihr auf den Herrn höret, wozu bedarf es dann solcher Worte? Was ist aber der Rat des Herrn? Leiht denen, von denen ihr nichts zurückzubekommen hofft1. Was ist das, frägt man, für ein Darlehen, bei dem eine Hoffnung auf Rückvergütung nicht besteht? Achte auf die Bedeutung des Wortes, und du wirst die Menschenliebe des Gesetzgebers bewundern. Wenn du einem Armen um des Herrn willen etwas reichen willst, so ist das Geschenk und Darlehen zugleich; ein Geschenk, weil du keine Rückerstattung S. 370 erhoffst, ein Darlehen mit Rücksicht auf die Freigebigkeit des Herrn, der für den Armen bezahlt, der die kleine Gabe, die er in der Person des Armen empfangen hat, reichlich vergelten wird. „Wer sich des Armen erbarmt, der leiht Gott“2. Willst du nicht den Herrn Aller dir verpflichtet wissen, wenn es zur Bezahlung kommt? Oder nimmst du etwa die Bürgschaft eines Reichen in der Stadt an, der dir für fremde Leistung bürgt, Gott aber willst du als Bezahler für den Armen nicht zulassen? Gib das Geld hin, das bei dir müßig liegt, ohne es mit Zinszuwachs zu beschweren, und es wird um Beide gut stehen. Für dich bleibt es in treuer Hut verwahrt; der Empfänger aber gebraucht es mit Gewinn. Wenn du aber auch einen Zuwachs begehrst, begnüge dich mit Gottes Lohn! Er wird für die Armen den Zins zahlen. Von dem wahrhaft Gütigen erwarte Güte! Denn was du nimmst (vom Armen), das geht über allen Menschenhaß. Aus dem Unglück ziehst du Gewinn, sammelst Reichtum aus den Tränen; du erdrosselst den Nackten, schlägst den Hungrigen; nirgends Mitleid, kein Gedanke an die Verwandtschaft mit dem Unglücklichen! Und den Gewinn daraus nennst du Menschenliebe. Wehe denen, die das Bittere süß, das Süße bitter nennen3 und Menschenhaß Menschenliebe! Selbst die Rätsel, die Samson seinen Tischgenossen vorlegte, waren nicht derart: „Vom Fresser ging Speise aus, vom Starken Süßigkeit4, und von Menschenhaß ist Menschenliebe ausgegangen. Man erntet doch von den Dornen nicht Trauben und von den Disteln nicht Feigen5“ und vom Wucherer keine Menschenliebe. Denn jeder faule Baum bringt schlechte Früchte. Es gibt „Hundertprozentler6“ und „Zehnprozentler7“, Namen, die schon beim Anhören Schauder erregen. Die pro Monat einfordern, fallen wie die Epilepsie bewirkenden Dämonen mit dem periodischen Umlaufe des Mondes über die Armen her. — Verhängnisvoll ist die Gabe für beide Teile, für den Geber wie für den Empfänger; dem einen bringt sie finanziellen, dem andern gar seelischen S. 371 Ruin. Der Landmann sucht nach der Ernte der Frucht den Samen unter der Wurzel nicht mehr auf; du aber erntest die Früchte und lässest doch die Kapitalsumme nicht fahren. Ohne Grund und Boden pflanzest du; ohne Aussaat erntest du. Ungewiß, für wen du sammelst. Wer ob der Zinsen weint, das weiß man; wer aber den Genuß haben soll von dem daraus quillenden Überflusse, ist ungewiß. Es ist ja nicht sicher, ob du nicht andern die Freude8 ob dem Reichtum überlassen mußt, indes du dich selbst mit der bösen Frucht der Ungerechtigkeit bereichert hast. „Wer also von dir borgen will, den weise nicht ab9!“ Gib dein Geld nicht gegen Zinsen weg, damit du, aus dem Alten und Neuen Testamente über das Nützliche belehrt, mit froher Hoffnung auf den Herrn scheidest, um im Jenseits die Zinsen für die guten Werke zu empfangen in Christus Jesus, unserm Herrn, dem Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
