7.
Wenn du auf dich selbst acht hast, wirst du dies und noch mehr finden, was deinetwegen erfolgt ist; du wirst an dem Bereitliegenden dich freuen und bei etwaigem Mangel nicht kleinmütig werden! Überall dir gegenwärtig, wird das Gebot dir eine große Hilfe sein. Ein Beispiel: Wenn der Zorn über vernünftige Überlegung obsiegt und du in der Aufwallung zu ungehörigen Worten und üblen, bestialischen Handlungen gereizt bist, dann brauchst du bloß auf dich selbst zu achten, und du wirst S. 193 die Wut wie ein unbändiges, zügelloses Füllen mit dem Hieb der Vernunft wie mit einer Peitsche bändigen; du wirst deine Zunge beherrschen und an den, der dich gereizt, nicht Hand anlegen. Wenn sodann böse Begierden wie Bremsen deine Seele anfallen und ausschweifende, zügellose Regungen verursachen, dann „gib acht auf dich selbst“ und denk’ daran, daß der augenblicklich süße Genuß ein bitteres Ende nimmt und der jetzt unserem Körper aus der Luft erwachsene Kitzel einen giftigen Wurm1 erzeugt, der uns ewig in der Hölle peinigen wird, und daß die Flamme der Sinnlichkeit die Mutter des ewigen Feuers2 werden wird. Und alsbald werden die Lüste verscheucht entweichen, und eine wunderbare Stille und Ruhe wird über die Seele kommen, wie der Lärm ausgelassener Mägde verstummt, sobald die züchtige Herrin naht.
„Hab’ also acht auf dich selbst“ und wisse, daß der eine Teil der Seele verständig und vernünftig, der andere aber den Begierden unterworfen und unvernünftig ist! Dem ersteren steht es von Natur aus zu, zu herrschen; der letztere hat auf die Vernunft zu horchen und ihr zu gehorchen. Laß darum nie deinen Geist versklavt werden und Knecht der Begierden! Gestatte anderseits auch nicht, daß die Leidenschaften gegen die Vernunft sich erheben und der Herrschaft über die Seele sich bemächtigen! — Überhaupt wird dir eine genaue Selbstbeobachtung eine verlässige Führerin zur Erkenntnis Gottes werden. Wenn du nämlich acht hast auf dich selbst, so wirst du es nicht nötig haben, aus dem Bau des Weltalls den Schöpfer aufzuspüren; vielmehr wirst du in dir selbst wie in einem Mikrokosmos die große Weisheit deines Schöpfers schauen. Aus der körperlosen Seele in dir erkenne den körperlosen und raumlosen Gott. Denn auch dein Geist hat zunächst keinen bestimmten Aufenthaltsort, sondern erst in Verbindung mit dem Leibe wird er räumlich festgelegt. Glaub’, daß Gott unsichtbar ist, wenn du an deine eigene Seele denkst; ist doch auch sie mit leiblichen Augen nicht S. 194 wahrnehmbar. Sie hat ja weder Farbe noch Gestalt, hat kein körperliches Merkmal an sich, sondern wird nur aus ihren Äußerungen erkannt. Daher suche bei Gott nicht eine durch Augen vermittelte Erkenntnis, sondern schenk’ der Vernunft Glauben und such’ ein geistiges Erfassen seiner! Bewundere den Künstler, wie er die Kraft deiner Seele mit dem Leibe so verbunden hat, daß sie bis zu seinen äußersten Teilen reicht und die entferntesten Glieder zu einer harmonischen Einheit zusammenschließt. Bedenk’, welche Kraft von der Seele dem Fleische mitgeteilt wird, welches Mitgefühl vom Fleische auf die Seele zurückflutet, wie der Leib von der Seele das Leben, die Seele vom Leibe die Schmerzen erhält, welche Verwahrung sie hat für das Erlernte, warum der Zuwachs an neuen Kenntnissen das Wissen um vorher Aufgenommenes nicht verdunkelt, vielmehr die Erinnerung daran unverworren und deutlich bleibt, als wären die Dinge in dem vorzüglichsten Teil der Seele wie in eine eherne Säule eingegraben, wie sie, den Leidenschaften des Fleisches ergeben, ihre natürliche Schönheit verliert, wie sie aber wieder, von der Sünde Schmach gereinigt, durch die Tugend zur Ähnlichkeit mit dem Schöpfer zurückkehrt.
