5.
Jedoch zum Weinen des Herrn über Lazarus und die Stadt haben wir folgendes zu sagen: Er aß und trank auch, nicht weil er Bedürfnis darnach hatte, sondern um dir Maß und Grenzen für die natürlichen Empfindungen der Seele zu hinterlassen. Und so weinte er auch, um das maßlose und unwürdige Verhalten der weinerlichen und ewig klagenden Seelen zu regeln. Denn wenn etwas, so bedarf das Weinen der Regelung durch die Vernunft, über wen, wie sehr, wann und wie geweint werden darf. Denn daß das Weinen des Herrn kein leidenschaftliches war, sondern ein vorbildliches, erhellt aus folgenden Worten: „Lazarus, unser Freund, schläft; doch ich gehe hin, ihn aufzuwecken1.“ Wer von uns beklagt einen schlafenden Freund, von dem er hofft, daß er kurz hernach erwache? „Lazarus, komm heraus2!“ Und der Tote ward lebendig, und der Gebundene wandelte einher. Wunder über Wunder! Die Füße waren mit Tüchern gebunden, und er ward doch nicht gehindert am Gehen. Eine Kraft war da, die größer war als die Fessel. Wie sollte nun der Herr, der solches tun wollte, das Ereignis beweinenswert gefunden haben? Ist S. 204 nicht klar, daß er, der in allweg unserer Schwäche zu Hilfe kommt, den natürlichen Empfindungen Maß und Ziel setzen wollte? Die Gefühllosigkeit vermied er als etwas Tierisches; übermäßigem Weinen und Klagen aber wehrte er als etwas Unedlem. Den Freund beweinend, bewies er seine Teilnahme an der menschlichen Natur und gleichzeitig heilte er uns von einer doppelten Übertreibung, indem er nicht zuläßt, daß wir uns zu weichlich den Affekten überlassen oder bei schmerzlichen Vorfällen gefühllos bleiben. Wie der Herr nach Verdauung der festen Speise den Hunger verspürte, nach dem Aufbrauch der Flüssigkeit im Körper Durst empfand und infolge der Anspannung der Muskeln und Sehnen auf der Reise ermüdete, ohne daß seine Gottheit davon berührt wurde, sondern weil eben sein Körper naturgemäß für jene Zuständlichkeiten empfänglich war, so gab er auch den Tränen nach und ließ so am Fleische eine natürliche Erscheinung eintreten. Die Tränen aber stellen sich ein, wenn die Höhlen des Gehirns mit Dünsten als den Folgeerscheinungen der Traurigkeit angefüllt sind und den Niederschlag der Feuchtigkeit durch die Poren der Augen wie durch Kanäle ausscheiden. Daher kommt auch ein gewisses Klingen, ein Schwindel, ein Dunkelwerden (vor den Augen), wenn man unerwartete Trauernachrichten bekommt; dem Kopfe wird schwindlig von den Dünsten, welche die im Innern angehäufte Hitze nach oben treibt. Alsdann lösen sich, wie ich meine, die verdichteten Dünste ebenso in Tränen auf wie die Wolken in Regentropfen. Daher liegt im Weinen für die Trauernden eine gewisse Erleichterung, weil durch die Tränen das, was sie beschwert, unversehens entfernt wird. Diese Tatsache wird durch die tägliche Erfahrung bestätigt. Wir haben schon viele kennen gelernt, die in furchtbaren Heimsuchungen gewaltsam der Tränen sich erwehrten, nachher aber in unheilbare Krankheiten fielen oder vom Schlage getroffen oder an den Gliedern gelähmt wurden, zum Teil sogar starben, weil die schwache Stütze ihrer Kraft unter der Schwere der Trauer zusammenbrach. Ähnliches läßt sich ja auch bei der Flamme beobachten: Sie wird vom eigenen Rauch erstickt, wenn dieser keinen Abzug hat, sondern die Flamme einhüllt. S. 205 Dasselbe soll auch der Fall sein bei der Lebenskraft des Geschöpfes: sie schwindet unter den Schmerzen dahin und erlischt, wenn sie keinen Weg nach außen findet.
