6.
So sollen denn die Weinseligen die Tränen des Herrn nicht zur Entschuldigung ihrer Leidenschaftlichkeit vorschützen. Denn wie die Speise, die der Herr genoß, für uns kein Anlaß zum Wohlleben ist, im Gegenteil, die äußere Grenze der Enthaltsamkeit und Mäßigkeit, so sind auch die Tränen für uns kein Gesetz, daß wir weinen sollen, sondern ein taktvollstes Maß und eine genaue Regel, wonach wir würdig und taktvoll innerhalb der Grenzen der Natur bleiben und die schmerzlichen Fügungen ertragen können. So ist es weder Frauen noch Männern erlaubt, lange zu klagen und viel zu weinen, wohl aber mäßig zu trauern ob des Unglücks und es kurz zu beklagen, und zwar in der Stille, ohne lautes Jammern und Heulen, ohne das Kleid zu zerreißen oder sich mit Asche zu bestreuen oder sonstwie taktlos von denen Manieren anzunehmen, die vom Himmlischen nichts wissen. Denn wer durch die göttliche Lehre gereinigt ist, muß von der gesunden Vernunft wie durch eine feste Mauer geschützt sein und tapfer und standhaft den Ansturm solcher Leidenschaftlichkeit abwehren, darf nicht die Wogen der Affekte in eine niedergeschlagene, schlaffe Seele wie in eine Grube einströmen lassen. Es ist das Zeichen einer unmännlichen Seele, einer Seele, die aus der Hoffnung auf Gott keine Stärke schöpft, wenn sie zu sehr sich beugen läßt und den Prüfungen erliegt. Wie die Würmer vorab in den weicheren Holzarten vorkommen, so greift die Traurigkeit besonders in den weicheren Naturen Platz. Hatte etwa Job ein Herz aus Diamant? Waren etwa seine Eingeweide aus Stein? Zehn Kinder starben ihm in kurzer Zeit, mit einem Schlage dahingerafft im Hause der Freude, in einer Stunde der Lustbarkeit, als der Satan das Haus über ihrem Kopf zu Falle brachte. Er sah den Tisch mit Blut bespritzt; er sah seine Kinder, zu verschiedenen Zeiten geboren, zu gleicher Stunde ums Leben gekommen. Und doch jammerte er nicht, raufte sich nicht die Haare aus, stieß kein gemeines Wort aus, sondern sprach jenes S. 206 berühmte, allgemein gepriesene Dankeswort: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen; wie es dem Herrn gefallen, so ist es geschehen. Der Name des Herrn sei gepriesen1!“ War der Mann gefühllos? Wie? Er, der von sich selbst sagt: „Ich weinte über jeden, der betrübt war“2. Log er etwa, wenn er so sprach? Doch die Wahrheit bezeugt ihm, daß er zu den andern Tugenden hin auch wahrhaftig war. „Der Mann“, sagt sie, „war unbescholten, gerecht, fromm und wahrhaftig3.“ Du aber mißbrauchst gewisse Lieder, die für die Trauernden verfaßt sind, zum Weinen und willst deine Seele durch Trauergesänge rühren. Und wie die Schauspieler für die Bühne eine besondere maskierte Kleidung haben, so verlangst du auch für den Leidtragenden ein besonderes Aussehen, ein schwarzes Kleid, aufgelöstes Haar, Dunkelheit im Hause, Schmutz, Staub, Klagegesang, um die Wunde der Traurigkeit in der Seele immer frisch zu erhalten. Das überlaß doch jenen, die keine Hoffnung haben4. Du aber bist über die, welche in Christus entschlafen sind5, also belehrt worden: „Gesäet wird (der Leib) in Verweslichkeit, auferstehen wird er in Unverweslichkeit; gesäet wird er in Schwäche, auferweckt in Kraft; gesäet wird ein tierischer Leib, auferstehen wird ein geistiger Leib6.“ Was beweinst du also einen Menschen, der nur hingeht, um sein Gewand zu wechseln? Auch dich selbst beklage nicht, als hättest du einen Gehilfen für dieses Leben verloren! „Denn es ist besser,“ heißt es, „auf den Herrn zu vertrauen, als auf Menschen zu bauen7.“ Beweine ihn nicht, als hätte ihn ein herbes Los getroffen; denn nach kurzer Zeit wird vom Himmel her die Posaune ihn auferwecken, und du wirst ihn vor dem Richterstuhle Christi stehen sehen. Still also mit jenen unwürdigen, ungezogenen Ausrufen, wie: „O das unerwartete Unheil! Wer hätte an so etwas gedacht! Wann hätte ich mich je darauf gefaßt gemacht, das mir teuerste Haupt der Erde S. 207 übergeben zu müssen!“ — Wenn wir nämlich das einen andern sagen hören, müssen wir erröten, weil uns sowohl die Erinnerung an die Vergangenheit wie die Erfahrung aus der Gegenwart lehrt, daß wir diesen naturnotwendigen Übeln nicht entrinnen können.
