3.
Weil sie die Gnade des Geistes schon empfangen haben und den Gnadentrost in geistiger Erquickung, Lust und Süßigkeit besitzen und darauf sich verlassen, werden sie aufgeblasen und sorglos, sind nicht mehr „zerknirschten Herzens“1 und demütigen Sinnes. Sie gelangen nicht zur Vollendungsstufe der Leidenschaftslosigkeit2, nehmen nicht mit allem Glaubenseifer die S. 85 ungeschmälerte Gnadenfülle auf, sondern begnügen sich vollauf mit dem geringen Gnadentrost, geben sich damit zufrieden und verbleiben darin. Darum machen solche Seelen mehr im Hochmut als in der Demut Fortschritte. Wegen ihrer sorglosen Leichtfertigkeit und ihrer törichten Eitelkeit, die aus der hohen Meinung von sich selbst entspringt, werden sie einmal der Gnadengabe, deren sie gewürdigt wurden, beraubt.
Ps. 146, 3 [hebr. Ps. 147, 3]; Is. 57, 15; 61, 1; Luk. 4, 18. ↩
Ἀπάθεια [Apatheia] = Leidenschaftslosigkeit. Diesen spezifisch stoischen Terminus (A. Bonhöffer, Epiktet und das neue Testament, Gießen 1911, S. 231) gebraucht „Mak.“ mit Vorliebe, aber er gibt ihm einen ganz anderen Inhalt wie die Stoa. Der stoische Weise, d. i. der, „welcher die wahre Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge und die aus ihr fließende absolute sittliche Einsicht und Kraft wirklich besitzt und eben hierdurch alle denkbar menschliche Vollkommenheit in sich vereinigt“, ist aller Schwachheiten und Leidenschaften ledig. Darin beruht seine ἀπάθεια [apatheia]. Stiglmayr (Sachl. u. Sprachl. b. Mak. S. 66 ff.) hat eine dankenswerte Untersuchung über den Inhalt des Begriffes ἀπάθεια [apatheia] bei den Kirchenvätern angestellt. Danach ist Klemens von Alexandrien der erste christliche Schriftsteller, der ἀπάθεια [apatheia] zur Bezeichnung der gänzlichen Freiheit von Leidenschaften, des vollen „Seelenfriedens“ eines Christen gebraucht. Die Seele Christi ist ἀπαθής [apathēs], leidenschaftslos, denn sie ist völlig frei von sittlichen Schwächen und Gebrechen (Paedag. I c. 2 ed. Stählin I 91). Christus ist darum das Ideal der ἀπάθεια [apatheia]. Auch der wahre Gnostiker muß ἀπαθής [apathēs] werden und sein (Strom. 6, 9 ed. Stählin II 468). Das gelingt aber nur durch fortwährende Vereinigung mit dem Logos mittels des Gebetes. Auch Klemens’ Schüler Origenes (In Jerem. hom. 5, 8. 9 Migne P. G. XIII 308 B—C) fordert die Befreiung von Leidenschaften, die ἀπάθεια [apatheia], und empfiehlt als Mittel gleichfalls das Gebet (1 Tim. 2, 8). Athanasius (De incarn. Verbi c. 54 Migne, P. G. XXV 192) sieht die Quelle der Leidenschaftslosigkeit des Christen im leidenschaftslosen Christus. Nach Gregor von Nyssa (Or. catech. 6 Migne, P. G. XLV 29 A) war bereits Adam mit der ἀπάθεια [apatheia] ausgestattet, sie war Anfang und Fundament seines Tugendlebens. Bei den asketischen Schriftstellern Evagrius Pontikus, Palladius, Markus Diadochus, Johannes Climacus u. a. erscheint die ἀπάθεια [apatheia] bereits als das Vollkommenheitsziel, das jeder wahre Asket erreicht (Stiglmayr a. a. O. S. 68). — Auf Grund dieser altchristlichen Auffassungen der ἀπάθεια [apatheia] kommt Stiglmayr zu folgendem Resultat: „Gegenüber der rein natürlichen ἀπάθεια [apatheia] der Stoiker hat die christliche ἀπάθεια [apatheia] einen unvergleichlich höheren Ursprung in der übernatürlichen Gnadenausstattung. Sie ist für den gefallenen Menschen ein mit heiligen Mitteln des Gebetes und der Selbstverleugnung anzustrebendes und mit Hilfe der Gnade zu erreichendes Gut. Sie hat zum Vorbilde . . . den leidenschaftslosen Christus ἀπαθὴς Χριστός [apathēs Christos]. Ihr Endziel ist die innigste, möglichst vollkommene Verähnlichung und Vereinigung mit Gott, ja eine Vergottung, soweit diese für das geschöpfliche Wesen erreichbar ist.“ (S. 69.) ↩
