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S. 83 Durch Demut und Eifer werden die Gaben der göttlichen Gnade bewahrt und vermehrt, durch Hochmut und Leichtsinn aber gehen sie verloren.
Die wahrheits- und gottliebenden Seelen, die in starker Hoffnung und festem Glauben Christus vollkommen anzuziehen1 verlangen, brauchen nicht so fast von andern an die Sehnsucht nach dem Himmel und die Liebe zum Herrn erinnert zu werden. Mögen sie auch noch so großen Nachteil erleiden, sie sind doch ganz und gar an das Kreuz Christi geheftet, sie nehmen in sich Tag für Tag einen geistigen Fortschritt zu ihrem geistigen Bräutigam hin wahr. Verwundet von himmlischer Sehnsucht, hungernd nach der Gerechtigkeit2 der Tugenden, empfangen sie die Erleuchtung des Geistes in glühendem, unersättlichem Verlangen. Ob sie auch gewürdigt werden, durch ihren Glauben Einsicht in die göttlichen Geheimnisse zu gewinnen, ob sie auch der himmlischen Gnadenwonne teilhaftig werden, sie setzen doch ihr Vertrauen nicht auf sich selbst in der Meinung, etwas zu sein. Im Gegenteil, je mehr sie geistiger Gnadengaben gewürdigt werden, desto unersättlicher wird ihr himmlisches Verlangen, um so eifriger ihr Suchen. Und je mehr sie einen geistigen Fortschritt in sich erleben, um so größer wird ihr Hunger und Durst nach dem Empfang und der Vermehrung der Gnade. Und je höher ihr geistiger Reichtum ist, um so ärmer kommen sie sich selbst vor, da sie von unersättlichem, geistigem Verlangen nach dem himmlischen Bräutigam glühen, wie die Schrift sagt: „Wer mich kostet, hungert noch; und wer von mir trinkt, dürstet noch“3.
