7.
Die, welche die wahre (= christliche) Philosophie kennen gelernt, die ihre Seelen von den Befleckungen S. 371 der Bosheit rein gewaschen, müssen auch das Ziel der Philosophie genau kennen. Haben sie die Anstrengung der Reise und das Ziel des Laufes erkannt, dann sollen sie samt und sonders die Selbstgefälligkeit und die Einbildung auf ihre guten Handlungen ablegen, sie sollen, wie die Schrift befiehlt, mit dem Leben ihre Seele verleugnen1 und nur auf den einzigen Reichtum schauen, den als Preis der Liebe zu Christus Gott denen gesetzt hat, „die ihn lieben“2; er beruft zu ihm alle, die bereit sind, die Mühe auf sich zu nehmen. Ihnen genügt für den Weg dorthin als Zehrung das Kreuz Christi, das sie mit Freude und froher Hoffnung tragen und so Gott, dem Erlöser, nachfolgen müssen, indem sie sich seine Heilsordnung zum Lebensgesetz und Lebensweg machen. So sagt der Apostel selber: „Seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi Nachfolger bin“3. Und wiederum: „Mit Ausdauer laufen wir bei dem vor uns liegenden Kampfe, hinblickend auf den Urheber und Vollender des Glaubens, Christus, welcher um der vor ihm liegenden Freude willen, der Schmach nicht achtend, das Kreuz erduldete und sich zur Rechten des Thrones Gottes gesetzt hat“4. Denn es steht zu befürchten, daß wir auf die vom Geiste empfangenen Gaben stolz werden, daß eine sittlich gute Tat uns Anlaß zu Prahlerei und Hochmut wird, daß wir, ehe wir zum Ziele des Erhofften gelangt sind, in unserem Eifer nachlassen, so daß wir auch die bereits bestandenen Mühen durch unsere Selbstgefälligkeit nutzlos für uns machen und uns der Vollkommenheit, zu der uns die Gnade des Geistes gezogen, unwürdig erweisen. Darum dürfen wir uns nirgends der Anstrengung und Mühe entschlagen, nicht den bevorstehenden Kämpfen aus dem Wege gehen noch bei dem, was hinter uns liegt, bei etwas Geschehenem, eifrig verweilen, wir müssen vielmehr jenes vergessen und mit dem Apostel „nach dem uns ausstrecken, was vor uns ist“5, durch S. 372 Sorgen und Mühen das Herz bußfertig machen und ein unersättliches Verlangen nach der Gerechtigkeit tragen, nach der allein die „hungern und dürsten“6 dürfen, die zur Vollkommenheit zu gelangen streben. Wir müssen demütig und überaus furchtsam sein, wir, die wir ja noch fern von den Verheißungen und weit entfernt von der vollkommenen „Liebe Christi“7 sind. Denn wer nach jener [Liebe] trachtet und zu der Verheißung emporschaut, der mag fasten oder wachen oder sonst einer Tugendübung obliegen, er ist nicht stolz auf die guten Werke, die er bereits vollbracht; im Gegenteil, voll göttlichen Verlangens, den Blick unverwandt auf den gerichtet, der ihn ruft, achtet er alle Mühen, die er ausgestanden, für gering im Vergleich zu jenem Ziel und Kampfpreis, die seiner winken. Er liebt den Kampf bis zum Ende dieses Lebens, er reiht Mühen an Mühen, Tugenden an Tugenden, bis er sich mittels seiner Werke wertvoll für Gott dargestellt, obwohl er in seinem Gewissen nicht glaubt, daß er sich für Gott würdig gemacht. Denn das ist die größte Tat der Philosophie, groß in den Werken und doch demütig im Herzen zu sein und über sein Leben gering zu denken, indem man durch die Gottesfurcht den Dünkel gewissermaßen niederwirft, um der Verheißung teilhaftig zu werden, da man diese doch wohl durch Glauben erlangt und nicht durch Mühen sich erwirbt. Groß sind die Gaben; darum ist es unmöglich, Mühen zu finden, die ihnen entsprechen. Es gehört jedoch ein großer Glaube und eine starke Hoffnung dazu, daß man diesen (Gaben) und nicht den Mühen den Lohn zumesse. Grundlage des Glaubens aber ist die Armut des Geistes und die ungemessene Liebe zu Gott.
