8.
Was nun die Hoffnung auf das Ziel anlangt, so glaube ich für die, welche entschlossen sind, weise zu leben, genug gesagt zu haben. Ich muß nun zum Gesagten noch hinzufügen, wie solche Leute untereinander leben, welche Mühen sie lieben, wie sie miteinander laufen sollen, bis sie in die himmlische Stadt gelangen.
Wer den Glanz dieses Lebens unbedingt S. 373 verachtet, seine Verwandten verleugnet, allen irdischen Ruhm verschmäht, nur das im Auge hat, was die himmlische Ehre bringt und mit den Brüdern, die „nach Gottes Willen“1 sind, geistig sich verbindet, der muß mit dem Leben auch seine Seele verleugnen. Verleugnung der Seele aber ist es, nirgends seinen eigenen Willen zu suchen, vielmehr seinen Willen dienstbar zu machen, das Wort Gottes, das zum Befehlshaber [über uns] gesetzt ist, zu erfüllen und sich dessen wie eines Steuermannes zu bedienen, der die gemeinsame Brüderschar in den Port des Willens Gottes lenkt. Keiner darf etwas besitzen oder neben dem Gemeingut sein eigen nennen, außer dem Gewande, das seinen Leib bedeckt. Denn wenn er nichts von dem hat, sondern der Sorge für sein eigenes Leben enthoben ist, so wird er ein Diener des gemeinsamen Bedürfnisses sein und willig, mit Freude und Hoffnung den Befehl seiner Vorgesetzten ausführen als wohlwollender, einfältiger Knecht2, der für das gemeinsame Bedürfnis der Brüder erkauft worden ist. Dies will ja auch der Herr und dazu mahnt er mit den Worten: „Wer unter euch der erste und groß sein will, der soll der letzte von allen, der Diener von allen, der Knecht von allen sein“3. Es darf also dieser Knechtesdienst bei den Menschen nichts eintragen und dem, der Knecht ist, keine Ehre und keinen Ruhm bringen, damit es nicht den Anschein hat, als suche er, wie es in der Schrift heißt, „Menschen zu gefallen“4, indem er „Augendienerei“5 treibt, da er ja nicht Menschen, sondern dem Herrn selbst dient und „den schmalen Weg“6 wandelt. Beugt er willig seinen Nacken unter das eine Joch des Herrn und trägt er es bis zum Ende, so gelangt er in Freude zum Ziele mit froher Hoffnung. Er muß sich also allen unterordnen und wie einer, der ein Darlehen schuldet, den Brüdern dienen, die Sorge für alle auf seine Seele nehmen und die schuldige Liebe S. 374 voll erfüllen. Aber auch die Vorstände des geistigen Vereines sollen die Größe ihrer Sorge bedenken und die Kunstgriffe der Bosheit, die dem Glauben auflauert, erwägen, ihres Amtes würdig kämpfen und ob ihrer Gewalt keinen Stolz aufkommen lassen. Denn darin liegt Gefahr. Es haben schon manche, die glaubten, andern vorzustehen und diese zum himmlischen Leben zu führen, vor Stolz gar nicht gemerkt, daß sie sich selbst ins Verderben stürzten. Es müssen also die Vorgesetzten in ihrem Amte sich mehr abmühen als die übrigen, demütiger gesinnt sein als die Untergebenen und als Vorbild des Dienstes ihr eigenes Leben den Brüdern darbieten in der Überzeugung, daß sie ein Vermächtnis Gottes in denen besitzen, die sich ihnen anvertraut. Ja, wenn sie sich so verhalten, wenn sie die dem Dienste geweihte Schar zugleich üben, die Belehrung nach dem Bedürfnis eines jeden einzelnen öffentlich erteilen, um die geziemende Ordnung eines jeden aufrecht zu erhalten, im Verborgenen aber in ihrem Sinne die Demut üben, als einsichtige Diener Christi „den Glauben bewahren“7, so erwerben sie sich durch ein solches Leben großen Lohn. Sie müssen also für dieselben ebenso Sorge tragen wie tüchtige Erzieher für zarte Kinder, die von ihren Eltern ihnen anvertraut wurden. Denn jene erteilen mit Rücksicht auf das Verhalten der Kinder dem einen Schläge, dem andern Ermahnungen, diesem Lob, jenem etwas anderes dergleichen; dabei handeln sie durchaus nicht aus Gunst oder Haß gegen diese, sondern so, wie es zur Sache paßt und das Verhalten des Kindes es erfordert, damit sie ehrbare Menschen für dieses Leben werden. So müssen auch wir jede Gehässigkeit gegen den Bruder und jede Selbstgefälligkeit ablegen und unsere Rede der Kraft und Einsicht des einzelnen anpassen. Den8 tadle, den9 mahne, einen andern „ermuntere“10, wie es eben der einzelne braucht, gleich einem guten Arzt, der die Arznei reicht. Denn S. 375 der verordnet mit Rücksicht auf die Krankheit dem einen ein leichtes, dem andern ein stärkeres Heilmittel, wobei er keinem der Heilung Bedürftigen zürnt, sondern den Wunden und den Leibern seine Kunst anpaßt. Richte du dich also nach der Sachlage, auf daß du die Seele des Schülers, der auf dich schaut, wohl erziehest und sie im Tugendglanze dem Vater zuführest als würdige Erbin seines Gnadengeschenkes. Wenn ihr euch so gegenseitig verhaltet, die Vorgesetzten wie die, welche diese zu Lehrern haben, wenn diese mit Freude den Befehlen gehorchen, jene mit Lust die Brüder zur Vollkommenheit führen, wenn ihr „mit Ehrerbietung einander zuvorkommt“11, so werdet ihr das Leben der Engel schon auf Erden führen. Darum soll sich bei euch kein Dünkel zeigen, Einfalt, Eintracht und unverfälschte Gesinnung sollen den Verband zusammenhalten. Ein jeder soll die Überzeugung in sich tragen, daß er nicht bloß dem Bruder, mit dem er zusammenlebt, sondern überhaupt jedem Menschen nachstehen werde. Denn wenn er zu dieser Erkenntnis kommt, dann wird er in Wahrheit ein Jünger Christi sein. Denn „wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“12. Und wiederum: „Wer unter euch der erste sein will, der wird der letzte von allen und der Diener aller sein“13. Ebenso auch: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben“14. Und der Apostel sagt: „Denn nicht uns selbst verkünden wir, sondern Christus Jesus, den Herrn, uns aber als eure Diener um Jesu willen“15. Da ihr also die Früchte der Demut und die Strafe des Hochmuts kennt, so ahmet den Herrn nach, indem ihr einander liebet, fürchtet nicht den Tod noch eine andere Strafe, wenn es gilt, das gegenseitige Wohl zu fördern, sondern gehet den Weg, den der Erlöser unter uns gewandelt ist, ihm S. 376 nach, in einem Leibe und in einer Seele schreitet der „oberen (= im Himmel geschehenen) Berufung“16 entgegen, indem ihr Gott und euch gegenseitig liebet; denn „die Liebe“ und die Furcht des Herrn „ist die erste Erfüllung des Gesetzes“17. Darum muß ein jeder von euch als starkes und festes Fundament die Furcht und die Liebe in seine Seele pflanzen und diese mit guten Werken und anhaltendem Gebete bewässern. Denn nicht so einfach und von selbst pflegt in uns die Liebe zu Gott zu wachsen, sondern unter vielen Mühen und großen Sorgen unter der Mitwirkung Christi, wie die Weisheit spricht: „Wenn du sie (= die Weisheit) suchst wie Silber und wie nach Schätzen nach ihr forschest, dann wirst du die Furcht des Herrn verstehen und die Erkenntnis Gottes erlangen“18. Hast du aber die Erkenntnis Gottes erlangt und die Furcht [Gottes] verstanden, dann wirst du mit Leichtigkeit auch das, was darauf kommt, tun, nämlich den Nächsten lieben. Denn ist die erste, große Mühe überstanden, dann folgt das Zweite, und da es geringer ist, so ist es mit weniger Mühen verbunden als das Erste. Fehlt aber letzteres, so kann wohl auch das Zweite nicht wahrhaft erfolgen. Denn wie sollte der, welcher „Gott nicht aus ganzer Seele und aus ganzem Herzen liebt“19, kräftig und aufrichtig auf die Liebe zu den Brüdern bedacht sein, da er ja keine Liebe zu den Dingen (= Erkenntnis und Furcht Gottes) trägt, um derentwillen er auf die Liebe zu den Brüdern bedacht ist? Denn den, der so ist, der seine Seele nicht ganz Gott hingibt, der nicht von Liebe zu ihm durchdrungen ist, den findet der Meister in der Bosheit unbewaffnet und überwältigt ihn leicht, indem er ihn mit schlimmen Gedanken überlistet; bald läßt er ihm die Gebote der Schrift schwer und den Dienst gegen die Brüder lästig erscheinen, bald reizt er ihn gerade wegen des Dienstes gegen seine Mitknechte zu Prahlerei oder Hochmut an und redet ihm ein, er sei, weil er die Gebote des Herrn S. 377 erfüllt habe, auch „groß im Himmel“20. Dies ist aber kein geringes Vergehen. Denn der gutgesinnte und eifrige Knecht muß das Urteil über sein Wohlverhalten dem Herrn überlassen, nicht aber darf er an Stelle des Herrn sich zum Richter und Lobredner seines eigenen Wandels machen. Würde er nämlich den wahren Richter verstoßen und sich selbst zum Richter machen, so würde er von ihm auch keinen Lohn empfangen, weil er sich vor dessen Urteilsspruch schon mit Eigenlob und Eigendünkel gesättigt. Denn nach dem Ausspruche des Paulus muß „der Geist Gottes unserm Geiste Zeugnis geben“21, nicht aber darf das Unsrige durch unser Urteil taxiert werden. „Denn nicht, wer sich selbst empfiehlt“, heißt es, „wird bewährt sein, sondern der, den der Herr empfiehlt“22. Wer aber nicht zuwartet, sondern dem Gerichte desselben (= des Herrn) vorgreift, der verfällt in Ruhmsucht vor den Menschen, er handelt sich für seine Bemühungen Ehre von den Brüdern ein und macht es wie die Ungläubigen. Denn ungläubig ist der, welcher nach den menschlichen Ehren statt nach himmlischen jagt, wie der Herr selbst irgendwo sagt: „Wie könnt ihr glauben, da ihr Ehre voneinander nehmet, und die Ehre, die von Gott allein kommt, nicht suchet?“23. Diese scheinen mir denen zu gleichen, die „das Äußere des Bechers und der Schüssel reinigen“24, innen aber voll mannigfacher Bosheit sind. Sehet also zu, daß euch nicht solches widerfahre, erhebet vielmehr aufwärts eure Seelen, trachtet einzig und allein danach, nur dem Herrn zu gefallen, nie den Himmel aus dem Gedächtnis zu verlieren noch die Ehren dieses Lebens anzunehmen. „So laufet“25; saget aber in eurer Rede nichts von euren Tugendkämpfen; denn sonst findet der, welcher die irdischen Ehren anbietet, einen kleinen Punkt, nimmt von da aus euren Sinn ein, zieht ihn von der Beschäftigung mit dem Wahren ab und zum Eitlen S. 378 und Trugvollen hin. Findet er aber durchaus keine Gelegenheit und keinen Schleichweg, die zu betören, die mit ihren Seelen droben weilen, dann ist er vernichtet und liegt tot da; denn die Bosheit nicht ausüben und vollbringen können, das ist des Teufels Tod. Ist nur die Liebe Gottes in euch, dann muß auch das andere in ihrem Gefolge sein, nämlich die Bruderliebe, die Sanftmut, die Ausdauer und der Eifer im Gebete, kurz jede Tugend. Da nun das Gut groß ist, so bedarf es, um es zu erwerben, auch großer Mühen, die aber nicht in der Absicht geschehen dürfen, um vor den Menschen zu prunken, sondern um dem Herrn zu gefallen, der das Verborgene kennt26. Auf ihn muß man immerdar schauen, das Innere der Seele erforschen und mit den Gedanken die Gottesfurcht umhegen, damit der Widersacher keinen Schleichweg und keinen Raum zu einem Anschlag findet, man muß die schwachen Glieder der Seele üben und zur „Erkenntnis des Guten und Bösen“27 führen. Sie (= die Seele) zu üben, weiß jedoch nur der Geist, der Gott nachfolgt, aus Liebe zu Gott seine ganze Seele zur Wohnstätte Gottes macht, an den verborgenen Tugendgedanken und Gesetzeswerken das Schwache heilt und mit dem Starken verbindet. Da es nun der Seele einzige Sorge und einziger Dienst ist, in Sehnsucht Gottes zu gedenken, sich immerdar der guten Gedanken zu befleißen, so wollen wir in diesem unserem Eifer nicht nachlassen, wir mögen „essen oder trinken“, wir mögen ruhen oder „etwas tun“28 oder reden, damit alles an uns zur Ehre Gottes und nicht zu unserer eigenen geschehe und unser Leben durch die Nachstellungen des Bösen (= des Teufels) nicht beschmutzt und befleckt werde. Und überdies ist „denen, die Gott lieben“29, die Last der Gebote leicht und süß, da ja die Liebe zu ihm uns den Kampf leicht und angenehm macht. Deshalb bemüht sich auch der Böse (= der Teufel) auf jede Weise, die Furcht des Herrn aus den Seelen zu S. 379 verbannen, die Liebe zu ihm durch unerlaubte Lüste und reizende Verlockungen zu zerstören, er sucht Streit in der Absicht, unsere Mühen zunichte zu machen, wenn er die Seele ohne die geistigen Waffen und ohne Wache trifft, er setzt die Ehre, die auf Erden uns zuteil wird, an die Stelle der himmlischen, verdunkelt das wahrhaft Gute durch das, was der Phantasie der Getäuschten als gut erscheint. Denn findet er die Wächter sorglos, so weiß er geschickt eine passende Gelegenheit zu erhaschen, sich in die Tugendmühen einzudrängen und unter den Weizen sein Unkraut zu streuen30, nämlich Lästerung, Aufgeblasenheit, Ruhmgier, Ehrsucht, Streit und die übrigen Bosheitswerke. Darum muß man wach sein und von allen Seiten den Feind beobachten, damit man ihn, wenn er in seiner Schamlosigkeit einen Angriff machen sollte, zurückschlagen kann, ehe er die Seele faßt. Denkt nur beständig auch daran, daß Abel dem Herrn ein Opfer „von den Erstlingen der Herde und vom Fette“31 brachte, Kain aber „von den Früchten der Erde“32, allein nicht von den Erstlingsfrüchten. „Und es sah Gott", heißt es, „auf das Opfer Abels, auf die Opfergaben Kains aber achtete er nicht“33. Welches ist nun der Gewinn, den wir aus dieser Erzählung ziehen? Wir sollen daraus lernen, daß Gott allezeit das wohlgefällig ist, was mit Furcht und Glauben, nicht das, was mit viel Aufwand ohne Liebe geschieht. Nicht anders hat Abraham von Melchisedech den Segen empfangen; er hat vielmehr die Erstlinge und das Vorzüglichste dem Priester Gottes dargebracht34; unter dem Vorzüglichsten und Besten aber, was er hat, meint er seine eigene Seele und seinen Geist. Damit fordert er uns auf, nicht ein spärliches Lob- und Gebetsopfer Gott zu entrichten, nicht das nächste beste dem Herrn darzubringen, sondern das Vorzüglichste, was die Seele hat, ja sie selbst (= die Seele) ganz und gar mit aller Liebe und Bereitwilligkeit [dem Herrn] zu weihen, damit wir allezeit durch die S. 380 Gnade des Geistes genährt werden, die Kraft Christi empfangen und so den Lauf des Heiles um der Gerechtigkeit willen leicht und angenehm gestalten und ihn mühelos machen können, indem Gott uns zum eifrigen Erdulden der Mühe seine Hilfe leiht und durch uns die Werke der Gerechtigkeit vollbringt.
Röm. 8, 27; 2 Kor. 7, 9 f. ↩
Vgl. Eph. 6, 5. 7. ↩
Matth. 20, 26 f.; Mark. 9, 34; 10, 43 f. ↩
Eph. 6, 6 ; Kol. 3, 22. ↩
Ebd. [Eph. 6, 6 ; Kol. 3, 22]. ↩
Matth. 7, 14. ↩
2 Tim. 4, 7; Off. 14, 12. ↩
Lies τῷ [tō]. ↩
Lies τῷ [tō]. ↩
2 Tim. 4, 2. ↩
Röm. 12, 10. ↩
Matth. 23, 12; Luk. 14, 11; 18, 14. ↩
Mark. 9, 35 nach dem griechischen Text; 9, 34 nach der Vulgata; vgl. Matth. 20, 26 f. ↩
Matth. 20, 28. ↩
2 Kor. 4, 5. ↩
Phil. 3, 14. ↩
Röm. 13, 10. ↩
Sprichw. 2, 4 f. ↩
Vgl. Deut. 6, 5; Matth. 22, 37; Mark. 12, 30; Luk. 10, 27. ↩
Vgl. Matth. 5, 19. ↩
Röm. 8, 16. ↩
2 Kor. 10, 18. ↩
Joh. 5, 44. ↩
Matth. 23, 25. ↩
1 Kor. 9, 24. ↩
Vgl. Ps. 43, 22 [hebr. Ps. 44, 22]. ↩
Gen. 2, 9. ↩
1 Kor. 10, 31. ↩
Röm. 8, 28. ↩
Vgl. Matth. 13, 25. ↩
Gen. 4, 4. ↩
Ebd. [Gen.] 4, 3. ↩
Ebd. [Gen.] 4, 4 f. ↩
Ebd. [Gen.] 14, 19 f.; Hebr. 7, 1 ff. ↩
