11.
Was muß nun der tun, der für Gott und die Hoffnung auf ihn lebt? Er muß die Tugendkämpfe, die Erlösung der Seele von den Leidenschaften mit Freuden aufnehmen und in Anbetracht des hohen Pfades der Tugendvollkommenheit auf ihn (= Gott) seine Hoffnung setzen und auf seine Menschenfreundlichkeit vertrauen. Denn also gerüstet und im Genusse der Gnade, der er vertraut hat, läuft er mühelos, er verachtet die Bosheit des Feindes, da er ja nun durch die Gnade Christi los und ledig von den Leidenschaften geworden ist. Wie nämlich die, welche durch die Vernachlässigung des Guten die bösen Leidenschaften in ihre Natur einführen und vergnügt in ihnen dahinleben, dieselben wie eine angeborene, natureigene Lust mit Leichtigkeit wirken und Habsucht, den Neid, die Schlechtigkeit und die übrigen Teile der feindlichen Bosheit ernten, so ernten auch die Arbeiter Christi und der Wahrheit durch den Glauben und die Tugendmühen die übernatürlichen Güter von der Gnade des Geistes mit unaussprechlicher Freude und wirken mühelos den unverfälschten, unerschütterlichen Glauben, den unwandelbaren Frieden, die S. 385 wahre Güte und all das übrige, wodurch die Seele über ihre eigene Kraft erhoben und mächtiger als des Feindes Bosheit wird und sich so als reine Wohnstätte dem anbetungswürdigen, heiligen Geiste darbietet. Von diesem empfängt sie den unsterblichen Frieden Christi und durch ihn (= den Frieden) wird sie mit dem Herrn vereinigt und verbunden. Hat sie die Gnade des Geistes empfangen, ist sie mit Gott vereint und zu einem Geiste mit ihm geworden, dann vollbringt sie nicht bloß mit Leichtigkeit die Werke der Tugend, die zu ihrem Eigentum geworden ist, da sie nicht mehr gegen den Feind zu kämpfen hat, um gegen seine Nachstellung siegreich zu sein, sondern, was größer ist als alles, sie nimmt die Leiden des Heilands auf sich und ergötzt sich an diesen mehr als die Freunde dieses Lebens an den menschlichen Ehren, Auszeichnungen und Gewalten. Denn für Christen, die durch einen guten Wandel und die Gabe des Geistes zum Maße der Geistesreife, der ihnen verliehenen Gnade nämlich, gelangt sind1, ist es Ruhm, Wonne und ein jede Lust übersteigender Genuß, um Christi willen gehaßt und verfolgt zu werden und jeglichen Übermut und jede Schmach für ihren Gottesglauben zu erdulden. Ein solcher setzt seine ganze Hoffnung auf die Auferstehung und die zukünftigen Güter, darum sind ihm jegliche Schmähung, Geißeln, Verfolgungen und alle übrigen Leiden bis zum Kreuze Wonne, Erquickung und Unterpfänder der himmlischen Schätze. Denn „selig seid ihr“, spricht der Herr, „wenn euch die Menschen alle schmähen und verfolgen und alles Böse mit Unwahrheit wider euch reden um meinetwillen; freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß im Himmel“2. Und der Apostel sagt: „Aber nicht allein dies, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale“3. Und an einer anderen Stelle: „Gerne will ich mich darum meiner Schwachheiten rühmen, damit in mir die Kraft Christi wohne. Darum habe ich Wohlgefallen an meinen Schwachheiten, an Schmähungen, an Nöten, an S. 386 Gefängnissen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“4. Und wiederum: „Als Diener Gottes in vieler Geduld“5. Denn hat diese Gnade des Geistes die ganze Seele in Besitz und erfüllt sie die Wohnstätte mit Wonne und Kraft, dann macht sie der Seele die Leiden für den Herrn süß und nimmt durch die Hoffnung auf das Zukünftige das Gefühl des gegenwärtigen Schmerzes weg.
Da ihr also durch die Mitwirkung des Geistes zu einer so hohen Macht und Ehre gelangen sollt, so wandelt in der dargelegten Weise, unterziehet euch mit Freude jeglicher Mühe und jeglichem Kampfe, um des Aufenthaltes des Geistes in euch würdig zu erscheinen, seid nirgends stolz auf euren Erbteil mit Christus, werdet nicht aus Leichtsinn matt, damit ihr nicht selbst fallet noch andern Anlaß zum Sündigen werdet. Wenn aber manche die Anspannung zum erhabenen Gebete und die Beflissenheit und Kraft, die man der Sache schuldig ist, noch nicht besitzen und deshalb von dieser Tugend noch entfernt sind, so sollen sie in den andern Stücken den Gehorsam pflegen, nach Vermögen Dienste leisten, fleißig arbeiten, eifrig dienen, mit Freude, nicht um Erdenlohn noch um menschlichen Ruhmes willen, nicht aus Weichlichkeit oder Nachlässigkeit den Mühen aus dem Wege gehen, [andern] nicht als fremden Leibern und Seelen dienen, sondern als Dienern Christi, als unserem Fleisch und Blut, damit eure Werke rein und unverfälscht vor Gott erscheinen. Was aber den Eifer in den guten Werken betrifft, so soll keiner mit dem Vorwand kommen, er sei nicht imstande, das zu vollbringen, was seine Seele rettet. Denn Gott befiehlt seinen Dienern nichts Unmögliches, er zeigt vielmehr seine göttliche Liebe und Güte so überschwenglich und reich, daß er nach seinem Willen jedem die Kraft verleiht, etwas Gutes tun zu können, und daß keinem von denen, die das eifrige Bestreben haben, gerettet zu werden, das Können fehlt. Er sagt: „Wer nur einen Becher kalten Wassers zu trinken reicht auf den Jüngernamen hin, wahrlich, ich sage euch, er wird seinen Lohn nicht S. 387 verlieren“6. Was ist gewaltiger als dieses Gebot? Einem frischen Becher folgt himmlischer Lohn. Und betrachte nur die ungemessene Menschenfreundlichkeit [Gottes]. „Soviel ihr einem von diesen getan habt, [soviel] habt ihr mir getan“7, sagt er. Das Gebet ist klein, der Gewinn aber, der aus der Befolgung erwächst, ist groß und wird als reicher Lohn von Gott gegeben. Darum verlangt er nicht über Vermögen. Im Gegenteil, du magst Kleines oder Großes tun, es folgt dir gemäß seiner Bestimmung der Lohn. Tust du es im Namen und in der Furcht Gottes, so kommt ein herrliches, unentreißbares Geschenk; tust du es aber aus Prunksucht vor den Menschen und um Menschenehre, dann höre den Schwur des Herrn selbst: „Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn schon empfangen“8. Damit uns nun dieses nicht widerfahre, verkündet er seinen Jüngern und durch sie uns: „Sehet zu, daß ihr euer Almosen oder euer Gebet oder euer Fasten nicht vor den Menschen übet; denn sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der im Himmel ist“9. In solcher Weise befiehlt er, diese Sterblichen und der Sterblichen Lob sowie den Ruhm, der verwelkt und uns entschwindet, zu verwerfen und zu fliehen und nur nach jenem [Ruhm] zu streben, dessen Schönheit man nicht aussprechen und dessen Grenze man nicht finden kann, durch den auch wir jene unaussprechlichen Geheimnisse werden erlangen können in Christus Jesus unserm Herrn, dem die Ehre sei in alle Ewigkeit. Amen.
