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Brüder, so ist unser Leben. Nur vorübergehend existieren wir. Das ist die irdische Tragödie: wir sind nicht und werden geboren, und wir werden geboren und sind nicht mehr. Wir gleichen dem Traume, der S. 226 verfliegt, dem Phantasiegebilde, das keinen Bestand hat, dem vorbeifliegenden Vogel, dem Schiffe, das auf dem Meere keine Spur hinterläßt, dem Staube, dem Rauche, dem Morgentau, der Blume, die blüht und verwelkt. „Wie Gras sind die Tage des Menschen; er verblüht wie die Blume des Feldes1.“ Über unsere Schwäche hat sich der treffliche David auch in folgenden Worten gut ausgesprochen: „Nenne mir die kleine Zahl meiner Tage2!“ Das Maß, das er den Tagen des Menschen gibt, ist nur eine Spanne3. Was sagst du dazu, daß Jeremias seiner Mutter aus Schmerz wegen seiner Geburt Vorwürfe machte und noch dazu wegen der Angriffe, die ihm Fremde bereiteten4? Alles ― sagt der Prediger5 ― habe ich gesehen, alles Menschliche habe ich an meinem Geiste vorüberziehen lassen: Reichtum, Lust, Macht, unsicheren Ruhm, die Weisheit, welche entflieht, ehe sie festgehalten wird, dann wieder die Lust und wieder die Weisheit, zu den gleichen Gütern wiederholt zurückkehrend; ferner die Genüsse des Gaumens, Lustgärten, zahlreiche Dienerschaft, große Besitzungen, Kellner und Kellnerinnen, Sänger und Sängerinnen, Waffen, Speerträger, huldigende Völker, reichliche Abgaben, königliche Würde, allen Überfluß und alles Notwendige, so daß ich alle Könige, die vor mir lebten, übertroffen habe. Und was ist mein Urteil über all dies? „Alles ist größte Eitelkeit, alles ist Eitelkeit und Einbildung6.“ D. h. es wird törichterweise von den Seelen erstrebt und vom Menschen verlangt zur Strafe für seine erste Sünde. Zum Schluß mahnt der Prediger: „Höre auf alles und fürchte Gott7!“ In der Furcht Gottes hat die Unruhe ihr Ende. Der einzige Gewinn, den du vom irdischen Leben haben kannst, ist, daß du durch die Unruhe der sichtbaren, unsteten Dinge zu dem Ewigen, Unbeweglichen geführt wirst.
