22.
Ich will die Tränen lassen und nunmehr in mich gehen und schauen, ob nicht, ohne daß ich es merke, manches in mir ist, was ich beweinen muß. Auf meine eigenen Verhältnisse will ich achten. „Ihr Menschenkinder ― denn euch geht die Rede an ―, wie lange ist euer Herz schwer und euer Geist stumpf? Warum liebt ihr die Eitelkeit und sucht ihr die Lüge1?“ Wie kommt ihr dazu, das irdische Leben und diese wenigen Tage hoch einzuschätzen? Sollen wir uns von solch süßem, liebem Scheiden abwenden, als wäre es etwas S. 230 Drückendes und Schreckliches? Wollen wir nicht zur Selbsterkenntnis gelangen? Wollen wir nicht das Sinnliche ablegen? Wollen wir nicht auf das Geistige achten? Und wenn geklagt sein muß, wollen wir uns nicht vielmehr darüber ärgern, daß der Aufenthalt in dieser Fremde so lange währt? Wollen wir uns nicht dem trefflichen David anschließen, der das irdische Leben als Zelt der Finsternis, „Stätte der Trübsal2, „Schlamm der Tiefe3“, „Schatten des Todes4“ bezeichnet? Wollen wir uns nicht darüber ärgern, daß wir so lange in den Gräbern, die wir herumtragen, bleiben, daß wir, obwohl wir zu Göttern geworden sind, doch noch als Menschen den Tod der Sünde sterben? Die Furcht vor diesem Tode hält mich Tag und Nacht fest. Daß in der Ferne nicht nur die Herrlichkeit, sondern auch das Gericht winkt, läßt mich nicht zur Ruhe kommen. Nach der Herrlichkeit strebe ich so sehr, daß ich ausrufen kann: „Es schmachtet meine Seele nach deinem Heile5“; vor dem Gerichte aber erschrecke ich und entsetze ich mich. Nicht das fürchte ich, daß dieser Leib, wenn er zerflossen und vernichtet ist, vollständig dahingeht, sondern daß das edle Gebilde Gottes ― edel ist es, wenn es seine Pflicht tut; unedel aber, wenn es sündigt ―, in welchem Vernunft, Gesetz, Hoffnung wohnen, zur gleichen Strafe wie die unvernünftigen Wesen verurteilt werde und nach seiner Trennung um nichts besser sein soll, ein Los, das allerdings denen gebührt, die in Gottlosigkeit leben und das höllische Feuer verdienen.
