§ 7.
1) Der Bischof, der Deuter der göttlichen Gerichte, weiß aus der heiligen Schrift, daß den Gottesfürchtigen zur Vergeltung das ewige Leben zuteil wird, indem ihnen die kleineren, aus der menschlichen Schwäche entspringenden Sünden gnädig verziehen werden. 2) Sonach bittet er um Erfüllung der in diesem Sinne lautenden Verheißungen Gottes; er prägt hiebei ein Abbild der göttlichen Güte in sich selber aus und gewährt den Gläubigen Sicherheit der Erhörung, sofern er nur begehrt, was Gott angenehm und von ihm selbst verheißen worden ist. 3) Für die Unheiligen dagegen betet der Bischof nicht, denn er würde sonst seine Rolle als Mittler und Verkünder des göttlichen Vergeltungswillens überschreiten und nur vergeblich bitten. 4) Es bedeutet also sein Beten eigentlich die Erklärung, daß alle Bedingungen der Erhörung, die persönliche Würdigkeit, der gottgefällige Gegenstand der Bitte und die zutreffenden göttlichen Verheißungen, gegeben sind. 5) Ähnlich ist die Trennungsgewalt der Oberhirten aufzufassen; sie sondern die Unwürdigen von der kirchlichen Gemeinschaft aus, sofern der heilige Geist sie zur Vollziehung eines solchen richterlichen Aktes antreibt, nicht aber, weil eigenes Ungestüm sie hinreißt. So lehren es die Stellen der Schrift. 6) Andrerseits sind die Gläubigen gehalten, den in solcher Weise erflossenen Entscheidungen der kirchlichen Obrigkeit sich zu fügen, weil sonst Gott in seinen Organen verachtet würde.
Der göttliche Hierarch ist nach den Worten der Schrift der Deuter der urgöttlichen Gerichte; er ist ja der Engel des Herrn, des allmächtigen Gottes. Aus den von Gott eingegebenen Schriften weiß er nun, daß denen, die ein heiliges Leben geführt haben, von der Wage der höchsten Gerechtigkeit (Gottes) nach Gebühr das herrlichste, göttliche Leben als Vergeltung verliehen wird, da sie gemäß der Güte der urgöttlichen Menschenfreundlichkeit über die aus menschlicher Schwäche anhaftenden Makeln hinwegsieht. Denn niemand ist ja, wie die Schrift sagt, rein von Schmutz. Der Hierarch weiß, daß diese Verheißungen von den wahrhaftigen S. 202 (heiligen) Schriften gemacht sind; er bittet also, daß sie in Erfüllung gehen und denen, die heilig gelebt haben, die heilige Wiedervergeltung gewährt werde. Er stellt hiebei einerseits in sich selber ein Bild der gottnachahmenden Güte dar, indem er für andere die Gnaden gleichwie ihm selbst zukommende erbittet. Andrerseits weiß er zugleich, daß die Verheißungen untrüglich sein werden und gibt den (bei der Beerdigung) anwesenden Gläubigen Kunde und Aufschluß, daß die von ihm gemäß der heiligen Regel erflehten Gnaden ganz sicher denen zufallen werden, die in heiligem Lebenswandel vollendet haben1. Denn nie würde der Hierarch, der Künder der urgöttlichen Gerechtigkeit, Dinge erbitten, welche nicht durchaus Gott wohlgefällig und ein Gegenstand seiner göttlich getreuen Verheißungen wären.
Das ist der Grund, warum er für die Unheiligen nach ihrem Tode keine solchen Gebete verrichtet; er handelt so, weil er sonst hierin nicht bloß von der Rolle eines Künders der göttlichen Gerichte abirren und auf eigene Faust einen Akt der hierarchischen Gewalt verüben würde, ohne von dem Urgrund der Mysterien dazu bewegt zu sein, sondern auch deshalb, weil er keine Erhörung seines frevelnden Gebetes fände und von dem gerechten Schriftwort auch selbst (den Vorwurf) zu hören bekäme: „Ihr bittet, aber ihr empfanget nicht, weil ihr nicht recht bittet“2. Daher bittet der göttliche Hierarch nur um solche Dinge, welche von Gott verheißen S. 203 und Gott wohlgefällig sind und durchaus werden gegeben werden. Er bezeugt hiebei vor Gott, dem Gütigen die eigene, gutgeartete Verfassung und verkündet durch seine Belehrung dem anwesenden Volke die Belohnungen, welche den Heiligen zukommen werden.
So haben denn auch die Hierarchen, als Künder der göttlichen Gerichte, die Vollmachten, (von der Kirche) auszustoßen, nicht als ob die allweise Urgottheit — um euphemistisch zu sprechen —, den unverständigen Antrieben derselben sklavisch folgte, sondern nur insoferne, als sie der Geist, die Urquelle aller geistlichen Gewalten, bewegt, schließen sie durch ihren Spruch (deklarativ) die von Gott bereits Gerichteten (von der Kirche) aus. Denn er sagt: „Empfanget den heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden nachlasset, denen sind sie nachgelassen; welchen ihr sie aber behaltet, denen sind sie behalten“3. Und dem (Apostel), der von den Offenbarungen des allheiligsten Vaters erleuchtet ist, sagt die Schrift: „Was du auf Erden binden wirst, das soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das soll auch im Himmel gelöset sein“4. Denn jener (Apostel) und nach seinem Beispiel jeder Hierarch nimmt, gemäß den ihm über die Gerichte des Vaters gewordenen Offenbarungen, als Organ der Verkündigung und Vermittlung, die Gottesfreunde auf und scheidet die Gottlosen aus. Denn jenes heilige Gottesbekenntnis (Bekenntnis der Gottheit Christi) legte er nicht, wie die Schrift sagt5, aus eigenem Antriebe ab und nicht, weil Fleisch und Blut es ihm geoffenbart hatten, sondern unter der Einwirkung Gottes, der ihn geistig (erleuchtend) in das Göttliche einführte. Daher müssen die gotterfüllten Hierarchen sowohl der Trennungsgewalt wie aller hierarchischen Vollmachten sich in der Weise bedienen, wie sie die Urgottheit, die Urquelle aller geistlichen Funktionen, bewegt6. Die an- S. 204 dern aber müssen auf die Hierarchen bei allen Handlungen, welche dieselben kraft des hierarchischen Amtes vornehmen, folgsam achten, weil jene von Gott bewegt werden. Denn „wer euch verachtet“, sagt er, „der verachtet mich“7.
D. will, daß das Gebet des Bischofs für den Verstorbenen einen deklarativen Charakter habe. Zur Frage, warum er sich überhaupt mit diesem Einwand so ausführlich beschäftigt, mag unter anderm zur Aufklärung ein Hinweis auf Epiphanius adv. haer. III [LV] (M. 42, 508 A) dienen. Da spottet Aerius über die Sitte, für die Toten Gebete zu verrichten. „Auf welchen Grund hin sagt ihr die Namen der Verstorbenen nach ihrem Tode her? Denn wenn der Lebende betet … was wird der Tote für einen Nutzen davon haben?“ Da brauchte man ja, so höhnt er weiter, sich des Guten gar nicht mehr zu befleißen; man verschaffe sich nur durch Geld oder andere Mittel gute Freunde, damit man durch deren (bestelltes) Gebet an allen Strafen im Jenseits vorbeikomme. ↩
Jak. 4, 3. ↩
Joh. 20, 21. 22. ↩
Matth. 16, 19. ↩
Matth. 16, 17. ↩
Diese Bemerkung des D. läßt den zeitgeschichtlichen Hintergrund ahnen, jene durch die monophysitischen Streitigkeiten aufgewühlten kirchlichen Zustände. ↩
Luk. 10, 16. ↩
