§ 10.
1) Die Seraphim haben, ihrem Namen „Entflammer“ entsprechend, die Kraft, eine reichlichere Ausduftung des heiligen Myron herbeizuführen, d. h. im mystischen Sinne eine lebhaftere Zuwendung von Erleuchtungen von Seiten Christi zu vermitteln. 2) Daher sind die Engel über die Geheimnisse der Menschwerdung Christi, seine Heiligung, die unversehrt gebliebene Wesenheit der göttlichen Natur unterrichtet. 3) Dementsprechend stellt die Kirche, welche die Unveränderlichkeit des Logos in der Menschwerdung kennt und andeuten will, in ihrem Ritus die Seraphim unmittelbar um das konsekrierte Myron. 4) Ein noch größeres Mysterium liegt darin, daß die Kirche das Myron zu allen Weihehandlungen gebraucht; der Geheiligte, der wieder heiligt (Joh. 17, 17 ff.) ist damit versinnbildet. 5) So wird z. B. das Myron in Kreuzesform in das Taufwasser gegossen und damit angedeutet, daß Christus für uns in den Tod des Kreuzes herabgestiegen ist und durch sein sieghaftes Hinabsteigen alle, die auf seinen Tod getauft werden, von dem Abgrunde rettet und mit neuem Leben beschenkt.
Wenn nun, wie die Übersetzer des Hebräischen sagen, die göttlichsten Seraphim von der Gottesoffen- S. 159 barung „Entflammer“ und „Entzünder“ genannt wurden, ein Name, welcher ihre wesenhafte Beschaffenheit offenbart, so haben sie, entsprechend der sinnbildlichen Darstellung, die Kraft, das göttliche Myron zu erregen und es zur Ausstrahlung und wirksameren Verbreitung der Duftteilchen hervorzulocken. Denn die unbegreiflich süßduftende Wesenheit läßt sich gerne von den feuerglühenden und reinsten Geistern zur Ausstrahlung erregen und gewährt denen, welche sie auf solche Weise überweltlich hervorlocken, in ganz glückseligen Ausspendungen die göttlichsten Anhauchungen.
Daher ist die göttlichste Ordnung der überhimmlischen Wesen nicht in Unkenntnis über den urgöttlichsten Jesus geblieben, daß er nämlich zum Zwecke der Heiligung herniedergestiegen ist. Sie weiß, daß er in seiner göttlichen und unaussprechlichen Güte heilig zu unserer Niedrigkeit sich herabgelassen hat. Und wenn sie sieht, daß er von seinem Vater und vom heiligen Geiste nach menschlicher Art geheiligt wird, so weiß sie doch, daß er in allen seinen urgöttlichen Handlungen seinen eigenen Ursprung hinsichtlich der Wesenheit unverändert bewahrt. Deshalb stellt die Überlieferung des symbolischen Ritus die Seraphim um das konsekrierte göttliche Myron, indem sie Christus in der unserer Natur vollständig entsprechenden, wahrhaften Menschwerdung als unveränderlich erkennt und anschaulich vorführt1.
Und was noch göttlicher ist, die Überlieferung (der Kirche) bedient sich des göttlichen Myron zur Konsekration jedes heiligen Dinges, indem sie, wie die Schrift sagt2, klar andeutet, daß der „Geheiligte“ wieder heiligt, wobei er in jeder urgöttlichen Heilstätigkeit immer sich selbst gleich bleibt. Deshalb wird auch die voll- S. 160 endende Gnade und Gabe der heiligen Geburt aus Gott unter den göttlichsten Weihungen vermittels des Myron vollzogen. Das ist nach meinem Dafürhalten auch der Grund, weshalb der Hierarch das Myron in kreuzesförmigen Aufgießungen in den reinigenden Taufbrunnen schüttet, um dem betrachtenden Auge nämlich zu zeigen, daß der für unsere Geburt aus Gott bis in den Tod des Kreuzes hinabgetauchte Jesus gerade durch sein göttliches und siegreiches Hinabsteigen diejenigen, welche nach dem geheimnisvollen Schriftworte3 in seinen Tod getauft sind, aus dem alten Schlund des verderblichen Todes in Güte emporhebt und zu einem gotterfüllten, ewigen Dasein neubelebt.
D. will sagen: Die Seraphim im Himmel umstehen als der innerste Kreis der Engelwelt unmittelbar die Gottheit bzw. den Logos. Um nun anzudeuten, daß der menschgewordene Logos, der im Myron versinnbildet ist, seine göttliche Natur unverändert bewahrt hat, umgibt die Kirche das Myron unmittelbar mit den Symbolen eben der Seraphim, die den Logos im Himmel umstehen. ↩
Joh. 17, 17 ff.; Hebr. 2 11. ↩
Röm. 6, 3; Kol. 2, 12; Gal. 3, 27. ↩
