Cap. IX.
Daraus müßt ihr, Wittwen, nun die Ueberzeugung schöpfen, daß ihr der natürlichen Hülfe nicht entbehrt und daß ihr durch weisen Rath euch sehr wohl nützlich machen könnt. Auch entbehrt ihr sicher des häuslichen Ansehens nicht, da ihr ja die höchste öffentliche Gewalt ausüben könnt.
Hier wendet man vielleicht ein, daß der Wittwenstand allerdings erträglich sei bei günstigen äußeren Verhältnissen, daß aber im Unglück eine Wittwe bald unterliege und zusammenbreche. Nun werden wir zwar schon durch die tägliche Erfahrung belehrt, daß heiterer Wohlstand für S. 123 Wittwen weit gefährlicher ist, als trübe Sorge; aber die heilige Schrift hat außerdem Beispiele genug, welche uns zeigen, daß auch dem Elende der Wittwen die Hülfe nicht gebricht. Und leichter als alle Anderen werden sie solche bei Gott und den Menschen erlangen, wenn sie ihre Kinder gut erziehen und gute Schwiegersöhne erwählen. Als, um ein Beispiel anzuführen, die Schwiegermutter des Petrus in schwerem Fieber lag, da baten Petrus und Andreas sogleich den Herrn für sie: „Und der Herr stellte sich ihr zu Häupten und gebot dem Fieber, und es verließ sie; sie aber stand sogleich auf und bediente sie.“1
„In schwerem Fieber lag sie“, sagt die Schrift, „und sie baten den Herrn für sie.“ Auch du hast Angehörige, die für dich bitten. Die Apostel sind dir verwandt, auch die Märtyrer, wenn du ihnen in treuer Verehrung und mit Gaben der Erbarmung nahest; denn der ist „der Nächste, welcher Barmherzigkeit übt.“ Sei auch du barmherzig und du wirst Petrus verwandt. Nicht die Gemeinsamkeit des Blutes, nein die Tugendgleichheit macht verwandt: wandlen wir ja nicht im Fleische, sondern im Geiste. Halte darum hoch solche Verwandtschaft mit Petrus und Andreas, damit sie auch für dich bitten, auf daß deine Leidenschaften dich verlassen. Getroffen von dem Worte des Herrn wirst auch du, die du noch eben am Boden lagest, dich sogleich erheben und Christus dienen. „Denn unser Wandel ist im Himmel, woher wir auch den Heiland erwarten, unsern Herrn Jesum Christum.“2 Niemand aber, der von der Erde sich nicht erhebt, kann Christus dienen. Diene übrigens nur dem Armen und du hast Christus gedient. „Denn was ihr einem aus diesen gethan habt, das habt ihr mir gethan“ sagt der Herr.3 Wie kann euch also Hülfe fehlen, wenn ihr euch solche Kinder, den Eurigen aber solche Freunde, solche Verwandte auswählt?
Es baten also für die Wittwe Petrus und Andreas. S. 124 Möchte doch für uns Jemand in gleicher Weise sofort bittend eintreten, oder möchten es lieber gleich jene sein, welche für die Schwiegermutter baten, — Petrus und Andreas! Konnten sie damals für eine Verwandte beten, so können sie das jetzt auch für uns und für Alle. Ihr wisset ja, daß diejenige, welche von schwerer Sündenschuld zu Boden gedrückt wird, wenig geeignet ist, für sich selbst zu bitten, und noch weniger, etwas für sich zu erlangen. Sie sende also Andere zum Arzte, da sie selbst in ihrer Krankheit, wenn der Arzt nicht auf das Bitten Anderer zu ihr kommt, kaum etwas erbitten kann. Krank an Leib und Seele, von den Fesseln der Sünde gehindert, kann sie ihre schwachen Füße zu dem Throne des himmlischen Arztes nicht schleppen. Anrufen muß man also die heiligen Engel, deren Schutz wir übergeben sind; anrufen müßen wir die Märtyrer, deren Reliquien uns ihren Schutz zusichern dürften. Diejenigen können wohl für unsere Sünden beten, welche durch ihr eigenes Blut ihre Sünden — wenn sie deren hatten — abgewaschen haben: sie sind ja Gotteszeugen und unsere Hirten, unseres Lebens und Thuns getreue Wächter. Wir dürfen also nicht scheuen, sie als Vermittler für unsere Armseligkeit anzurufen; haben sie doch selbst die Elendigkeit des Leibeslebens — wenn sie auch als Sieger daraus hervorgegangen — wohl erkannt.
Die Schwiegermutter des Petrus fand Jemanden, der für sie flehte; und auch du Wittwe findest solche, die für dich flehen, wenn du nur als echte Wittwe in deiner Verlassenheit auf Gott hoffest, wenn du nicht nachlässest in deinen Gebeten Tag und Nacht und deinen Leib abtödtest, als müße er jeden Tag sterben, damit du selbst aus dem Tode erstehest. Wenn du die Lüste fliehest, so wirst du auch von deiner Krankheit geheilt werden: „denn die in Lüsten lebt, die ist lebendig todt.“4
Ist dir die Gelegenheit zur Vermählung genommen, so hast S. 125 du gleichwohl solche, die für dich eintreten. Sage nicht: „Ich bin verlassen!“ Das ist die Klage einer Heirathssüchtigen. Sage nicht: „Ich bin allein!“ Die Keuschheit sucht die Einsamkeit, die Züchtige liebt Zurückgezogenheit, nur die Lüsterne begehrt nach lebhaftem Verkehr. Aber du hast Rechtsstreitigkeiten: gut, es wird dir auch an einem Vertreter nicht fehlen. Du fürchtest deinen Gegner? Der Herr selbst tritt beim Richter für dich ein, indem er sagt: „Schaffet Recht der Waise, beschirmet die Wittwe!“5
„Aber du willst dein Erbtheil bewahren?“ Ach, dein größtes Erbgut ist die Züchtigkeit, und die schützest du besser als Wittwe, denn als Gattin. „Dein Diener hat einen Fehler begangen!“ Verzeihe ihm, denn es ist besser, eines Anderen Schuld tragen, als selber Schuld auf sich laden. „Aber du willst heirathen?“ In Gottes Namen. Dieser Wille hat an sich nichts Verwerfliches. „Ich suche ja nicht nach einem Vorwande,“ sagst du? Aber warum wird er denn erheuchelt? Scheint dir der Grund anständig, so bekenne ihn offen; scheint er dir nicht passend, so schweige! Sage doch nicht, du wollest für deine Kinder sorgen; du raubst ihnen ja die Mutter! Es mag dieses übrigens an sich erlaubt sein, und doch ist es in einem bestimmten Alter nicht erlaubt. Warum doch werden mitten zwischen, ja meistens nach den Hochzeiten der Töchter Vorbereitungen getroffen für die Hochzeit der Mutter? Warum lernt die erwachsene Tochter eher vor dem Bräutigam der Mutter, als vor dem eigenen erröthen? Wir haben gerathen, — es soll nicht geleugnet werden, — daß du dein Gewand wechseln mögest, aber nicht, daß du ein flammrothes anlegest: daß du von dem Verstorbenen dich entfernest, aber nicht, daß du einem Lebenden dich wieder zuwendest. Was ist es doch mit einer Neuvermählten, die längst schon Schwiegersöhne hat! Kann es etwas Ungeziemenderes geben, als wenn eine Mutter jüngere Kinder, als Enkel hat?“6
