Cap. II.
Um des Lobes würdig zu werden, das der Apostel den Wittwen spendet, genügt also nicht, daß die Ehe durch den Tod des Gatten getrennt ist, es muß vielmehr die Tugend hinzutreten. Für solche gebe aber nicht ich Vorschriften, sondern der Apostel hat sie ausgesprochen. Nicht ich allein will sie geehrt wissen, sondern der Völkerapostel hat das früher verlangt, wenn er sagt:1 „Wittwen ehre, die wahrhaft Wittwen sind. Wenn aber eine Wittwe Kinder hat oder Enkel, so lerne sie zuerst ihr eigen Haus leiten und den Eltern Vergeltung erstatten.“ Eine doppelte Tugendgesinnung muß darnach die Wittwe beseelen: sie muß ihre Kinder lieben und den Eltern gehorchen. Während sie so den Eltern Folgsamkeit zeigt, übt sie zugleich ihr Lehramt an den eigenen Kindern und lohnt sich auf diese Weise selbst durch ihre Pflichterfüllung; das, was sie Anderen gewährt, nutzt ihr selbst.
S. 103 „Denn das,“ fährt der Apostel fort, „ist angenehm vor Gott.“ Wenn du, o Wittwe, sinnest, was Gottes ist, so mußt du auch das befolgen, wovon du weißt, daß es Gott wohlgefällig ist. In der That sagt ja der Apostel vorher, indem er zum Streben nach Keuschheit mahnt, daß die Wittwen auf das sinnen, was des Herrn ist. Eine Wittwe aber, welche wohl erprobt zum heiligen Dienste ausersehen wird, soll nach einem weiteren Worte des Apostels nicht bloß sinnen, was des Herrn ist, sondern auch fest auf ihn hoffen. „Die,“ sagt er, „welche wahrhaft Wittwe und vereinsamt ist, hoffe auf Gott und beharre in Bitten und Gebeten Tag und Nacht.“ Und nicht mit Unrecht fordert er, daß diejenigen ohne Tadel sein müssen, denen Tugendwerke aufgelegt werden, denen aber auch eine so große Würde zuerkannt wird, daß sie selbst von den Bischöfen geehrt werden sollen.
Welche aber zu solcher Wahl zugelassen werden sollen, das liegt in den Worten: „Sie soll nicht unter sechzig Jahren sein und eines Mannes Weib.“ Damit soll nicht gesagt werden, als ob das Alter allein die wahre Wittwe mache; es sollen vielmehr die Verdienste des Wittwenstandes ihren Lohn im Alter finden. Erhabener steht ja Jene da, welche die anschwellende Gluth der Jugend bewältigt, ohne nach der Gunst eines Gatten, nach gesteigerter Freude reicheren Kindersegens zu verlangen. Oder ist sie in ihrer Jugendfülle nicht verehrungswürdiger als Jene, welche abgestorben im Greisenalter eine Tugend übt, die bloß natürlich ist?
Ebenso soll durch jene Worte des Apostels derjenigen, welche eine zweite Ehe einging — und der Apostel verdammt das keineswegs — und dann von Neuem das Eheband durch den Tod ihres Gatten gelöset sah, nicht ganz die wahre Wittwengesinnung abgesprochen werden. Auch sie kann das Verdienst einer freilich erst späten Keuschheit sich erwerben: aber bewährter ist doch jene, welche auf die zweite Ehe verzichtete. In dieser leuchtet der Kampf um die Tugend, das Ringen um der Keuschheit willen; jene dagegen scheint mehr S. 104 unter dem Einfluße des Alters oder einer natürlichen Scham zu handlen.
Die Stärke der Wittwe besteht aber nicht bloß in der äußeren Enthaltsamkeit, sondern in treuer ausgedehnter Tugendübung. Darum fährt der Apostel fort: „Wenn sie in guten Werken bezeugt wird, wenn sie Kinder aufgezogen, wenn sie Fremde beherbergt, wenn sie Heiligen die Füße gewaschen, wenn sie Bedrängten beigestanden, wenn sie jedem guten Werke sich hingegeben hat.“ Man sieht, wie viele Tugendübungen hier verlangt werden; und zu den einzeln aufgeführten kommt noch die Nachfolge in jedem guten Werke.
Die jüngeren Wittwen sollen nach der Anweisung des Apostels gerade deßhalb vermieden werden, weil sie solchem Tugendwerke nicht gewachsen sind. Die Jugend ist dem Falle mehr ausgesetzt, weil die Gewalt der Begierden durch die Gluth des jugendlichen Alters noch mehr entfacht wird, und ein treuer Lehrer muß die Veranlassung zur Sünde zurückhalten. Das ist die Grundlage einer guten Unterweisung, daß man erst die Sünde zu verhindern und dann die Tugend einzupflanzen sich bemüht. Da jedoch der Apostel sehr wohl wußte, daß die heilige Anna achtzigjährig, aber schon in ihrer Jugend Wittwe geworden, als Prophetin die Werke des Herrn vorausverkündigte, so kann er meines Erachtens die jüngeren Wittwen nicht schlechthin von dem Streben nach echter Wittwentugend haben ausschließen wollen. Da er vielmehr geradezu sagt: „Es ist besser zu heirathen, als in Begierden zu erglühen,“ so hat er offenbar die Verehelichung als Heilmittel angerathen, damit diejenige, welche sonst Gefahr liefe, gerettet würde. Mit diesen Worten hat aber der Apostel keineswegs vorschreiben wollen, daß diejenigen, welche die Gnade der Enthaltsamkeit empfangen, besser thun, diesem Gnadenzuge nicht zu folgen. Es ist ja in der That ein bedeutender Unterschied, dem Sinkenden zu Hilfe zu eilen und eine Tugend anzurathen für den standhaften Nachfolger des Herrn.
S. 105 Wird es noch nöthig sein, daß ich von den menschlichen Urtheilen hinsichtlich der Behandlung der Wittwen rede, wenn wir uns erinnern, daß die Juden nach dem Berichte der heiligen Urkunde durch Nichts den Herrn so schwer beleidigten als dadurch, daß sie die Rücksicht auf die Wittwen und die Rechte der Waisen verletzten? Das künden die Worte des Propheten, welche die Verwerfung des Volkes als wohl verdient hinstellen. Die Wittwen zu ehren, den Waisen Gerechtigkeit zu erzeigen, das allein wird als Grund angegeben, wenn der Zorn Gottes sollte besänftigt werden. „Schaffet Recht der Waise, beschirmet die Wittwe; alsdann kommet und klaget über mich, spricht der Herr.“2 Wiederum heißt es: „Der Herr nimmt auf die Waisen und die Wittwe“3 und: „Die Wittwen will ich segnen.“4 Das ist um so erhabener, als ein Vorbild der Kirche darin verborgen liegt. — So sehet ihr denn, ihr heiligen Jungfrauen, daß jene Pflicht keineswegs leichtfertig vernachlässigt werden kann, welche durch die Zusage göttlicher Segnungen geehrt ist.
