Cap. XIII.
Es wird nun also hier nicht ein Gebot, sondern nur ein Rath gegeben: das Gebot erstreckt sich auf die Keuschheit, der Rath auf die jungfräuliche Reinigkeit. „Aber1 nicht Alle fassen dieses Wort, sondern nur die, denen es gegeben ist; denn es gibt Verschnittene, die vom Mutterleibe so geboren sind“ (bei ihnen ist von der Tugend der Keuschheit keine Rede); „und es gibt Verschnittene, die von Menschen dazu gemacht wurden; und solche, die sich selbst verschnitten haben“ in freiem Entschlusse um des Himmelreichs willen. In ihnen ist die Gnade der Enthaltsamkeit mächtig geworden; denn der Wille, nicht körperliche Beschaffenheit macht die Tugend. Wo nicht gekämpft zu werden braucht, da ist auch keine Siegeskrone zu beanspruchen.
Was aber diejenigen betrifft, welche in mißverstandenem Eifer Hand an sich selbst legen, so will nicht ich sie verurtheilen: es genügen die Satzungen der Vorfahren. Was nützt aber die äußere, körperliche Keuschheit, da ja im Blicke schon Sündenschuld liegen kann?! Denn „ein Jeder, der S. 134 ein Weib mit Begierde nach ihr ansieht, hat die Ehe schon mit ihr gebrochen in seinem Herzen.“2
Wenn aber der Herr sagt: „Es gibt solche, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen,“ so schließt das kein Gebot ein, das Alle verpflichtet, sondern einen an Alle gerichteten Wunsch. Derjenige, welcher Gesetze gibt, muß allezeit das richtige Maß seiner Bestimmungen innehalten; wer die Vertheilung besorgt, muß immer eine billige Prüfung vorausgehen lassen; denn „eine trügerische Waage ist ein Gräuel bei Gott.“3 Es gibt eben ein zu großes und ein zu kleines Gewicht: die Kirche verwirft aber beide, „denn doppeltes Gewicht und doppeltes Maß, beides ist ein Gräuel bei Gott.“4 Wo die Weisheit die Vertheilung lenkt, da wird die Tugend und die Kraft des Einzelnen wohl ermessen, und deßhalb sagt der Herr: „Wer es fassen kann, der fasse es.“
Der Schöpfer aller Dinge weiß, daß die Anlagen der Einzelnen verschieden sind und gerade deßhalb ruft er durch gesteigerte Belohnungen die Tugend hervor, aber er beschwert die Schwäche nicht durch härtere Fesseln. Das wußte auch der Völkerapostel, der vortreffliche Lehrer guter Sitte, der S. 135 von sich selbst erkannt hatte, daß das Gesetz des Fleisches dem Gesetze des Geistes widerstreite, daß jenes aber der Gnade Christi weiche: er wußte, daß die verschiedenen Strömungen des Geistes sich entgegengesetzt sind. Darum richtet er seine Mahnung zur jungfräulichen Reinigkeit auch so ein, daß die Heiligkeit des Ehestandes darunter nicht leidet; auf der andern Seite aber erhebt er die Ehe nicht so sehr, daß dadurch das Streben nach jungfräulicher Reinigkeit irgend beseitigt wird. Er beginnt mit der Mahnung zur Keuschheit und schreitet vor bis zu den Mitteln gegen die Unenthaltsamkeit. Wenn er den Preis der höchsten Berufung den Stärkeren zeigt, so duldet er doch auch nicht, daß Jemand auf dem Wege vor Schwäche erliege. Er spendet reiches Lob den Ersteren, aber er verachtet die Anderen nicht. Hatte er ja doch selbst erfahren, daß der Herr Jesus den Einen Gerstenbrod gab, damit sie auf dem Wege nicht erlägen, den Anderen aber seinen heiligen Leib, damit sie mit voller Kraft dem Himmelreich zustrebten.
Der Herr selbst nun hat kein Gebot aufgelegt, sondern nur den freien Willensentschluß angespornt; so hat auch der Apostel keinen Befehl, sondern nur einen Rath ertheilt. Das ist nicht der Rath eines Menschen innerhalb der Grenzen menschlicher Kräfte: er bekennt vielmehr selbst, daß es ein Geschenk der göttlichen Erbarmung sei. Somit weiß er als treuer Lehrer das Eine vorzuschreiben, das Andere nahe zu legen. Er sagt nicht: „Ich bestimme,“ sondern: „Ich halte dafür, daß dieses gut sei um der obwaltenden Noth willen.“
Darnach ist also das eheliche Band nicht wie eine Sündenschuld zu fliehen; man darf ihm aber wohl wie einer Last des Lebens ausweichen. Das Gesetz bindet das Weib, Mutter zu sein in Mühe und Traurigkeit, und ihr Verhältniß zum Manne ist das der vollen Unterwerfung. Die Wittwe ist befreit von jenen Mühen und Schmerzen der Gattin, und nur die ehelich Verbundene steht unter der Herrschaft des Mannes. Von all dem aber ist die Jungfrau frei, welche dem ewigen Worte ihre tiefsten Herzensneigungen geweiht hat, welche den Bräutigam mit brennender Fackel und treuem, S. 136 festem Willensentschlusse erwartet. Sie wird deßhalb auch nur durch wohlgemeinten Rath herangerufen, aber nicht durch drückende Bande zur Nachfolge gezwungen.
Matth. 19, 11. ↩
Der in zwei Paragraphen hier des Näheren behandelte Gegenstand muß es rechtfertigen, daß bei der Uebersetzung einige Auslassungen stattgefunden haben, und daß hie und da statt des Wortlautes nur eine Andeutung wiedergegeben ist. Die Berufung auf Gal. 5, 12, als handle es sich dabei um eine Strafbestimmung: „Nemo igitur se debet abscindere . . . praesto Apostolici forma praescripti: Utinam abscindantur, qui volunt vos circumcidi“ ist ganz ungerechtfertigt. Das Wort des Apostels „Ὄφελον καὶ ἀποκόψονται οἱ ἀναστατοῦντες ὑμᾶς“ [Ophelon kai apokopsontai hoi anastatountes hymas] (Vulg. Utinam et abscindantur, qui vos conturbant.) bezieht sich lediglich auf diejenigen, welche Alles daran setzten, um nur die Beschneidung aufrecht zu erhalten; ihnen stellt der Apostel sarkastisch das ὄφελον καὶ ἀποκόψονται [ophelon kai apokopsontai] entgegen! Was dagegen die sogenannten apostolischen Kanonen (Can. XXI—XXIII) ad hoc verordnen, mag zur Zeit des Ambrosius allerdings kirchliche Praxis gewesen sein. ↩
Sprüchw. 11, 1. ↩
Sprüchw. 20, 10. ↩
