Cap. VI.
Erscheint dir ferner Noemi unbedeutend, welche in ihrem Alter von ihrer Schwiegertochter mit den gesammelten Garben fremder Ernte ernährt wurde? Es gereicht übrigens zum Besten der Wittwen, daß sie ihre Schwiegertöchter so heranziehen, daß diese ihnen im späten Greisenalter eine Stütze bieten: so empfangen sie gewissermaßen als Entgelt den Lohn für ihre Bemühung. Derjenigen, welche ihre Schwiegertochter gut unterrichtet und angeleitet hat, wird auch eine Ruth nicht fehlen, welche die Begleitung ihrer Schwiegermutter dem Verbleiben im väterlichen Hause vorzieht. Selbst wenn auch ihr Mann gestorben, wird sie jene doch nicht verlassen; in ihrer Hilflosigkeit wird sie die greise Mutter nähren, in ihrer Trauer sie trösten, und selbst wenn sie entlassen würde, nicht fortgehen: eine wahrhaft gute Erziehung hält also darbende Armuth ferne. So hatte Noemi, ihres Gatten und beider Kinder beraubt, zwar den Genuß ihres Wohlstandes verloren, aber die Erträgnisse einer dankbaren Kinderliebe waren ihr geblieben; hier fand sie Trost in ihrem Schmerze, Hülfe in ihrer Armuth.
Da sehet ihr also, heilige Frauen, eine wie reiche Nachkommenschaft an Tugend und Verdienst eine Wittwe besitzen kann ohne deren Verlust jemals fürchten zu müssen. Eine gute Wittwe wird in der That den Mangel kaum kennen lernen. Selbst wenn sie vor Alter gänzlich gebrochen in äußerster Armuth lebt, so wird sie doch noch den Lohn für S. 115 die gute Erziehung der Ihrigen haben. Ja selbst wenn nahe Verwandte ihr nicht zur Seite ständen, so findet sie Fremde, welche die Mutter ehren und durch kleine Gaben den Lohn für ihr freundliches Erbarmen sich sichern wollen: denn gar reichlich werden die Verdienste, die man um eine Wittwe sich erwirbt, vergolten. Sie bittet um ein wenig Speise, aber sie zahlt Schätze zurück.
Und doch scheint es, als ob sie traurige Tage verlebe, während sie mit Thränen die Zeit ausfüllt. Aber gerade darin ist sie glückselig zu preisen, daß sie himmlische Freuden mit einigen Zähren, ewigen Lohn mit wenigen Stunden des Schmerzes erkauft. Deßhalb ist mit Recht gesagt: „Selig die Trauernden, denn sie werden dereinst sich freuen.“ Wer möchte denn nun den falschen Schein gegenwärtiger Freuden vorziehen dem Vollgenusse einer sicheren Zukunft? Oder erscheint uns etwa so ganz ohne Bedeutung der erwählte hohe Urahn des Herrn, der „Asche aß wie Brod und seinen Trank mit Thränen mischte;“1 der mit den Thränen des Abends die Freude des Erwachens sich erkaufte? Wie also könnte man hohe Freude sich sicherer verdienen, als durch tiefe Trauer, indem man gleichsam um den Preis der Thränen sich die Gnade künftiger Herrlichkeit erwirbt?
So ist denn das für die Wittwe die beste Empfehlung, daß sie über Vergängliches trauert, während sie den Gatten beweint: darum mögen denn auch lindernde Thränen bereit sein, welche den Lebenden nützen, während sie den Todten gewidmet sind. Der Seelentrauer gesellet sich zu die Thräne des Auges: sie aber erweckt Mitleid, mindert die Mühen, erleichtert den Schmerz, bewahrt die Züchtigkeit. Jene darf in der That sich nicht mehr elend dünken, welche in Thränen ihre Tröstung findet, welche der Liebe Sold, der Treue Beweis sind.
Ps. 101, 10 [Hebr. Ps. 102, 10]. ↩
