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Geliebteste! Zu allen Zeiten „ist die Erde erfüllt von der Barmherzigkeit des Herrn“1 , und für jeden Gläubigen ist die Welt selber ein Wegweiser zur Verehrung Gottes. Legen doch „Himmel und Erde, das Meer und alles, was darin ist“2 von der Güte und Allmacht ihres Schöpfers Zeugnis ab. Und die wunderbare Schönheit der zu unserem Dienste bestimmten Natur zwingt jedes denkende Wesen zu schuldigen Dankesworten. Noch S. 220eindringlicher aber ist die Mahnung, sich durch eine gottgefällige Reinigung auf die Auferstehung3 vorzubereiten, wenn jene Tage wiederkehren, die durch die Geheimnisse der menschlichen Erlösung besonders ausgezeichnet sind und dem Osterfeste unmittelbar vorangehen. Freilich bringen nicht wenige jederzeit ihr Leben in Unschuld hin, und machen sich gar viele Gott angenehm, indem sie gute Werke üben, aber trotzdem darf man kein solches Vertrauen auf die Reinheit seines Herzens setzen, daß man glaubt, die Hinfälligkeit des Menschen habe nicht inmitten aller Ärgernisse und Versuchungen zu Schaden kommen können. Sagt doch ein so trefflicher Mann wie der Prophet: „Wer kann sich rühmen, daß er ein keusches Herz habe oder rein von Sünde sei?“4 . Und an einer anderen Stelle: „Von meinen verborgenen Sünden reinige mich, o Herr! Und wegen der fremden schone deines Knechtes!“5 Selbst jenen, die gegen ihre sinnlichen Begierden ankämpfen, ihren aufwallenden Zorn unterdrücken und sogar ihre geheimsten Gedanken in strenger Zucht halten, selbst diesen widerfährt es das lehrt die Erfahrung , daß sie immer noch etwas Tadelnswertes in ihrem Herzen zu entdecken vermögen, daß sie oft geheime Fehler übersehen oder durch die anderer belastet werden. Darum soll man auch in dieser gnadenreichen Zeit besonders aufmerksam prüfen, welches die Schäden und Gebrechen, wie groß die Wunden sind, für die man zu einem kräftigeren Heilmittel greifen muß, um nicht seines Anteils an jenem Geheimnis verlustig zu gehen, durch welches die Werke des Satans vereitelt werden! Gehört es doch zum Wesen des Osterfestes, daß sich an ihm die ganze Kirche über die Nachlassung der Sünden freut. Diese soll nicht nur bei jenen eintreten, die durch die heilige Taufe wiedergeboren werden, sondern auch bei jenen, die schon längst das Los der Kindschaft Gottes mit uns S. 221teilen! Natürlich werden wir in erster Linie durch die in der Wiedergeburt sich vollziehende Reinigung zu „neuen Menschen“ gemacht, allein da tagtäglich allen eine Erneuerung nottut, um die von ihrer sterblichen Natur kommenden Rostflecken zu entfernen, und da auch unser Streben nach Vollkommenheit nie den höchsten Grad erreicht, so ist es allgemeine Pflicht, darauf hinzuarbeiten, daß niemand am Tage der Erlösung in seinem alten Sündenleben angetrofffen wird.
