1.
Das Wort Furcht ist zwar, geliebteste Brüder, dem Wortlaut nach nur ein Wort: zieht man aber die Bedeutung in Betracht, so ist Furcht von Furcht zu unterscheiden. Es gibt nämlich zwei Arten von Furcht: die eine ist die Furcht Gottes, die andere die natürliche Furcht. Die natürliche Furcht entsteht im Menschen; die Furcht Gottes wird gelernt und gelehrt; denn sie besteht nicht im Zittern, sondern ruht auf dem Grunde der Lehre, wie geschrieben steht: „Kommet, Kinder. S. 128 höret mich: ich will euch die Furcht Gottes lehren.“1 Die natürliche Furcht wird nicht erst gelernt, sie überfällt uns auf Grund unserer Schwachheit; denn du rufst ja nicht etwa auf künstliche Weise die Furcht vor dem Gegenstand deiner Furcht hervor; du fürchtest vielmehr das, was du nicht willst, daß es dir zustößt. Solche Furcht entsteht aus verschiedenen Veranlassungen: so, wenn aus dem Bewußtsein einer Schuld heraus sich mächtig das Gewissen regt; oder wenn die Hand eines Feindes mit dem Schwert drohend das Leben in Gefahr bringt; oder wenn einem Wanderer auf seinem Wege sich eine Schlange entgegenstellt, zum Biß emporgerichtet, mit ihren leuchtenden Schuppen glühend, giftgeschwollen; oder wenn ein wütend gewordenes wildes Tier, nach Blut gierig, unter Gebrüll, das schon aus nächster Nähe kommt, sich dem Fliehenden auf den Rücken stürzen will; oder wenn das Schiff bereits die Steuerruder verloren hat und ächzend inmitten der mit ihm kämpfenden Winde und Wogen vor dem Schiffbruch steht. Das Schlimmste von all dem ist die Furcht des Gewissens; denn alle angeführten und ihnen ähnlichen Dinge gehen vorüber, wenn man sie glücklich überstanden; die Furcht des Gewissens aber verschwindet nicht,
Ps. 33,12. ↩
