Zweiundvierzigster Vortrag: Über die Stelle: „Die Schwestern [des Lazarus] sandten zu Jesus und ließen ihm sagen: 'Herr, der, den du lieb hast, ist krank'...“bis: „Ich glaube, dass du Christus, der Sohn des lebendigen Gottes bist, der in diese Welt kommen soll.“ Joh 11,3-27
Uns, die wir nach der Lesung des Apostels wieder zu den Wundertaten des Evangeliums zurückkehren1 , kommt gleich entgegen Lazarus, der aus dem Grabe zurückgekehrt war; er zeigt uns die Art und Weise, wie der Tod überwunden werden muß; er ist das Vobild unserer Auferstehung. Wenn es euch also gefällt, wollen wir, ehe wir auf das Meer der Lesung des Evangeliums uns hinauswagen, ehe wir den uns entgegenkommenden Wogen von Fragen uns widmen, ehe wir in die Tiefe dieser Erzählung eindringen, unseren Blick richten nur auf die Außenseite2 dieser Auferstehung[sGeschichte]. Denn wir sehen hier das Zeichen der Zeichen, S. 231wir schauen die Kraft der Kräfte, das Wunder der Wundertaten. Der Herr hatte das Töchterlein des Jairus, des Synagogen vorstehers auferweckt3 . Aber der Leichnam war noch nicht erkaltet, der Tod war noch nicht vollständig eingetreten4 ; der Leichnam lag noch im Hause, der Mensch weilte [gleichsam] noch unter den Menschen, noch ging fast der Atem5 , noch war die Seele nicht überliefert dem Kerker der Unterwelt und um nicht viele Worte zu machen: er gab der Toten so das Leben wieder, dass gewahrt blieb das Recht6 der Unterwelt. Er erweckte auch den einzigen Sohn einer Mutter7 , aber so, dass er den Leichenzug anhielt, dass er dem Begräbnis zuvorkam, dass er die Verwesung aufhielt, dem Leichengeruch zuvorkam, dass er dem Toten noch eher das Leben wiedergab, als der Tote allen Rechten des Todes verfallen war.
Was aber bei Lazarus geschah ist etwas Einzigartiges: sein Tod, seine Auferstehung hat mit den vorher erwähnten Fällen nichts gemein. An ihm hatte wohl der Tod seine ganze Kraft gewahrt, und auch die Auferstehung [des Toten] unterliegt keinem Zweifel; ja ich wage zu behaupten, dass Lazarus, wenn er nach drei Tagen aus dem Grabe zurückgekommen wäre, sich das ganze Geheimnis der Auferstehung des Herrn zugeeignet hätte; denn Christus, der Herr, kehrte nach drei Tagen zurück, Lazarus, der Knecht, wird nach vier Tagen zurückgerufen! Zum Beweis unserer Behauptung wollen wir einiges aus der Lesung selbst hören. „Es sandten“, heißt es, „die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen; 'Herr, der, den du lieb hast, ist krank'“8 . Mit diesen Worten appellieren sie an seine Liebe, berufen sich auf seine Güte, bestürmen seine S. 232Milde, wünschen, dass ihre freubndschaftlichen Beziehungen die Notlage aufheben9 . Christus aber lag mehr daran, den Tod zu besiegen, als die Krankheit zu entfernen; seine Liebe ging darauf aus, nicht den Geliebten gesund zu machen, sondern ihn von der Unterwelt zurückzuführen. Und darum bereitete er nicht dem Kranken ein Heilmittel, sondern verlieh ihm gleich die Herrlichkeit der Auferstehung. Deshalb heißt es beim Evangelisten: „Auf die Nachricht, dass Lazarus krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Orte“10 . Ihr seht, wie er dem Tode noch Raum gibt, ihm Freiheit und Macht der Verwesung verleiht. Er verweigert nichts der Fäulnis, nichts dem Modergeruch; er läßt der Unterwelt zu, ihn hinabzuziehen, hinabzureißen, ihn festzuhalten; er läßt es so weit kommen, dass die menschliche Hoffnung gänzlich zugrunde geht, dass die ganze Macht irdischer Trostlosigkeit sich einstellt, damit offenbar werde, dass das, was er tun werde, eine göttliche, nicht eine menschliche Tat sei. So lange aber will er an dem Orte [wo er weilte] verbleiben in der Erwartung des Todes, damit er selbst ihn als tot bezeugen und dann sagen könne, er komme zu Lazarus. Er sagte nämlich: „Lazarus ist gestorben; ich aber freue mich“11 . Ist das Liebe? Christus freut sich, weil die Bitterkeit des Todes bald umgewandelt werden sollte in die Freude der Auferstehung. „Ich aber freue mich euretwegen“12 . Warum euretwegen? Weil in dem Tode und der Auferstehung des Lazarus das vollkommene Bild des Todes und der Auferstehung des Herrn vorgezeichnet wurde, und weil das, was an dem Herrn sich vollziehen sollte, schon vorher geschehen war an dem Knechte. Denn er sagte ein über das andere Mal: „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten überliefert werden, und sie werden ihn zum Tode verurteilen und den Heiden ausliefern zur Verspottung und zur Geißelung und S. 233zur Kreuzigung“13 . Und indem er so sprach, sah er, dass sie genugsam zweifelten, übergenug von Trauer und Trostlosigkeit in ihrer Seele erfüllt waren.
Er erkannte, dass sie so sehr durch die Schwere seines Leidens selbst nieder gedrückt werden müßten, dass von Leben, von Glauben, von Licht nichts mehr in ihnen bleiben könnte, dass sie vielmehr ganz der dunklen Nacht des Unglaubens verfallen müßten. Und darum ließ er den Lazarus im Tode bis zum vierten Tage; darum ließ er zu, dass der Tod bis zur Verwesung voranschreiten sollte, damit der Herr die Macht habe, nach drei Tagen wieder lebendig sich [aus dem Grabe] zu erheben, wenn sie den Knecht [Lazarus] nach vier Tagen und bereits verwest sich erheben gesehen hätten. Sie sollten glauben, dass der leicht sich das Leben wiedergeben könne, der einen andern unter solchen Umständen zum Leben zurückgerufen hatte. Deshalb sagte er: „Ich aber freue mich euretwegen, damit ihr glaubt.“ Der Tod des Lazarus war also notwendig, damit mit dem Lazarus auch der Glaube der Jünger sich zugleich aus dem Grabe erhebe. „Dass ich nicht dort war“14 . Gab es denn einen Ort, wo Christus nicht war? Und wie war er denn nicht dort, wo er doch den Tod des Lazarus den Jüngern verkündigte? Brüder! Christus als Gott war dort, aber nicht Christus als Mensch. Christus als Gott war da, als Lazarus starb; aber erst nach dem Tode des Lazarus wollte Christus zu ihm kommen, weil er als Herr selbst den Tod erleiden wollte. Das ist der Grund, dass er sagte: „dass ich nicht dort war“, d. h. im Tode, im Grabe, in der Unterwelt, wo erst durch mich und meinen Tod alle Gewalt des Todes vernichtet werden soll. „Sobald nun“, heißt es, „Martha hörte, dass Jesus komme, eilte sie ihm entgegen und sagte zu ihm: 'Herr, wärest du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben'“15 . Weib, in einem Atemzuge bekennst du ihn als Gott und sagst doch: „Wärest du hier gewesen“. S. 234Gott trennt doch kein Raum, und seine Gegenwart ist nicht abhängig von der Zeit. Lazarus wäre nicht gestorben, wenn der Herr da gewesen wäre?16 er war ja da; [besser hättest du gesagt,] wenn du, [Weib,] nicht im Paradiese gewesen wärest! Weib, du hast die Tränen verursacht, du die Seufzer erfunden, du hast um den Preis eines Bissens den Tod herbeigeführt und klagst nun die Abwesenheit Gottes an, wo du doch die Ursache des Todes finden müßtest in deiner Anwesenheit!17 . Als du [uns] den Tod brachtest, da war Anlaß zu klagen; nun aber ist eine Gelegenheit zur Wunderkraft. Damals war gegeben der Tod zur Strafe für den Sünder, nun aber ist er zugelassen zur Verherrlichung des Lebendigmachers; damals erhielt die Unterwelt den Menschen, jetzt verliert sie ihn. Doch nun, Weib, suche im Glauben, was du durch deinen Unglauben verloren hast! „Herr, wärest du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben. Aber auch jetzt noch weiß ich, dass Gott dir alles gewährt, um was du ihn bittest“18 . Dies Weib glaubt nicht, sondern versucht nur zu glauben; denn Glaube und Unglaube streiten noch in seiner Seele. „Gott wird dir alles gewähren, um was du ihn bittest.“ Gott gibt aus sich, nicht aber bittet er sich selbst! Warum, Weib, machst du so viel Umstände bei deinen Bitten, wo er ja schon bei dir steht, zum Geben bereit?
Weib, es ist der Richter selbst, den du dir nur als Anwalt wünschest. In ihm ist die Macht des Gebers, nicht die Not des Bittenden. „Ich weiß“, sagte sie, „dass Gott dir alles gewährt, um was du ihn bittest.“ Weib, ein solcher Glaube ist kein Glaube; ein solches Wissen ist ein Nichtwissen! Dies beweist der Apostel, wenn er sagt: „Denn wenn der Mensch glaubt, etwas zu wissen, weiß er nichts“19 . Doch wir wollen die Antwort des Herrn hören. „Dein Bruder wird auferstehen“20 . Und das Weib antwortete: „Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der S. 235Auferstehung am Jüngsten Tage“21 . Martha, wiederum ist dein Wissen ein Nichtwissen. Du weißt, dass dein Bruder bei der Auferstehung am Jüngsten Tage auferstehen kann; aber du weißt nicht, dass er es auch jetzt kann! Oder kann etwa Gott, der dann alle auferwecken kann, nicht jetzt ihn, den einzigen Toten, auferwecken? Er kann es, ja Gott kann einen Toten zum zeitlichen Zeichen erwecken, er, der später alle Toten zum zeitlichen Zeichen erwecken, er, der später alle Toten auferwecken wird zum ewigen Leben! „Ich weiß, dass Gott dir gewähren wird, um was du ihn bittest, und ich weiß, dass er auf erstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.“ Martha, vor dir ist schon die Auferstehung [Christus], und du wähnst sie noch so weit! „Ich bin“, heißt es von ihm, „die Auferstehung“22 . Und warum heißt es: „Ich bin die Auferstehung“ und nicht vielmehr: „Ich bin es, der auferweckt“? Worin liegt dafür der Grund? Er, der menschliche Natur annahm, nahm auch den Tod an, damit er, der durch seinen Befehl einen auferweckte, durch seine Auferstehung alle auferweckte, und so soll Christus denen der Lebensquell sein, denen Adam war ein Abgrund des Todes23 , damit erfüllt werde des Apostels Wort: „Wie in Adam alle starben, so werden in Christo auch alle wieder lebendig gemacht werden“24 . „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ sprach er. „Wer an mich glaubt, wird lebe n, selbst wenn er gestorben ist. Und keiner, der lebt und an mich glaubt, wird für ewig sterben. Glaubst du das?“25 . Und das Weib erwiderte: „Ja, Herr, ich glaube; ich glaube, da du Christus, der Sohn des lebendigen Gottes bist, der in diese Welt kommen soll“26 . Wenn er zu Lazarus gekommen war, warum beschäftigt er sich so mit Martha? Warum das? Damit diese noch eher im Glauben auferstand, als jener im Fleische erweckt würde. So handelt der, der gekommen war, den Lebenden und den Toten zu helfen; denn er scheut sich nicht, zu verzögern, da bei ihm ja auch die Wirkung und die Macht seiner Wunderkraft beruht. S. 236Brüder! Wir wollen heute die Rede beschließen, wenn anders ihr wünscht, noch mehr von dem Folgenden zu vernehmen.
über die Reihenfolge der Perikopen läßt sich aus den Predigten des Chrysologus nichts entnehmen; vielleicht ist aber unter lectio apostolica bloß die gottesdienstliche Lesung zu verstehen ↩
aspectum ↩
Mk 5,37 ff. ↩
mediante morte ↩
adhuc viante spiritu ↩
Januel liest unnötigerweise non statt ius ↩
Lk 7,11. 17 ↩
Joh 11,3 ↩
necessitudinem necessitudine submovere gestiunt ↩
Joh 11,6 ↩
ebd 11,14f. ↩
ebd 11,15 ↩
Mt 20,18 f. ↩
Joh 11,15 ↩
ebd 11,21 ↩
Zu ergänzen: „so sagst du; aber...“ ↩
D. h. im Paradiese ↩
Joh 11,21 f. ↩
vgl. 1 Kor 8,2 ↩
Joh 11,23 ↩
Joh 11,24 ↩
Joh 11,25 ↩
puteus mortis ↩
1 Kor 15,22 ↩
Joh 11,25. 26 ↩
ebd 11,27 ↩
