Dreiundvierzigster Vortrag: Über die Stelle: „Als Jesus sah, wie sie [Maria] weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, wurde er tief ergriffen...“ bis: „Hätte er, welcher dem Blinden die Augen öffnen könnte, diesen nicht vor dem Tode bewahren können?“ Joh 11,33-37
Wenn man auch über jedes einzelne Wort der Hl. Schrift ein ganzes Buch schreiben wollte, so würden doch die Geheimnisse, die in ihm verborgen sind, den Lesern nicht klar werden. Und welche Wirkung wird dann ein schnell dahinfliegendes, kurzes Wort haben, das nach Art des Blitzes, kaum dass es die Augen erhellt, schon wieder verschwunden ist und den Sehenden statt Licht nur Furcht einflößt? Weil wir eben in der Dunkelheit dieser Welt weilen und in unserem Fleische mehr ein Nacht als ein Tages leben führen, so betet, dass Christus uns anzünde die Leuchte seines Wortes und wir unter seiner Führung das dun kle Land des himmlischen Geheimnisses durchschreiten, dass wir so, wenn auch mit langsamen Schritten, so weit wir es vermögen, gelangen zur leuchtenden Weisheit Gottes, jenen Magiern gleich, die, die Augen ihres Geistes prüfend, nicht wagen, sich dem Glanze der Sonne oder der göttlichen Klarheit auszusetzen, sondern zur Nachtzeit das bescheidene Licht der Sterne mit noch bescheidenerem Blicke sich [zum Führer] nehmend, kamen zu der äußerst bescheidenen Wiege Christi.1 S. 237Doch laßt uns nun, wie wir versprochen haben, das, was noch von der Lesung übrig ist, besprechen. „Sobald nun Martha“, heißt es, „hörte, dass Jesus komme, eilte sie ihm entgegen“2 . So war also wohl kein Diener, kein Verwandter, kein Freund da, der sie trösten konnte, dass das Weib allein, mitten durch die Massen des Volkes, mitten durch den Flecken, dazu noch außerhalb der Stadt und auch noch zur Zeit der Trauer, dem ankommenden Helfer entgegeneilen mußte? Brüder! Bei diesen Personen handelt es sich nicht um natürliche Ursachen, sondern Geheimnisse werden dadurch angezeigt. Das Weib, das dem Tode entgegengeeilt war, eilt nun für den Tod3 ; es eilt zur Vergebung, wie es zur Schuld geeilt war; es kommt nun hin zu dem gütigen Retter, wie ehemals sich an das Weib der verruchte Verführer herangemacht hatte4 ; jetzt sucht es die Auferstehung, wo es vorher den Untergang gesucht hat, und wie es dem Manne den Tod gebracht hat, so eilt es jetzt, um dem Manne das Leben wiederzugeben.
Deshalb blieb Christus an dem Orte, wo er weilte,5 , deshalb wartete er, deshalb geht er nicht durch das Volk hindurch, deshalb eilt er nicht auf das Haus zu, deshalb wendet er sich nicht dem Grabe zu, deshalb eilt er nicht zu Lazarus, deswegen er doch gekommen war, sondern er wartet auf das Weib, er bleibt bei dem Weibe stehen, nimmt zuerst das Weib auf, weil auch sie der Überlister zuerst betörte. Er vertreibt [zuerst] aus dem Weibe den Unglauben, ruft dem Weibe den Glauben zurück, damit sie, die das Werkzeug des Verderbens war, nun auch ebenso die Vermittlerin des Heiles werde, und damit sie nun wieder durch Gott die Mutter der Lebendigen werde, die so lange durch den Teufel die Mutter der Toten war. Und weil das Weib S. 238der Anfang des Übels6 gewesen war, führte er die Sache des Todes, um noch, ehe er die Verzeihung gewährt, die Sünde zu tilgen, noch vor der Aufhebung des Strafurteils die Schuld selbst aufzuheben, um zu verhüten, dass der Mann das Weib, durch das er einmal getäuscht worden war, von der Teilnahme am Leben ausschlösse, mit einem Worte:das Weib wäre verloren gewesen, wenn Christus der Herr zuerst zu dem Manne gekommen wäre.
Deshalb, Brüder, wird Christus von einem Weib geboren; deshalb erweckt das Weib jederzeit den Mann aus dem Grabe ihres Schoßes, damit sie den mit Schmerzen wieder herbeiruft, den sie mit trügerischen Worten von sich gestoßen hat, damit sie unter Tränen den wieder erhalten könnte, den sie durch den Genuß der verbotenen Frucht verloren hatte. Deshalb wird Martha, sobald sie Christo ihr Bekenntnis abgelegt hat und als Vertreterin des weiblichen Geschlechtes durch dieses fromme Bekenntnis jegliche Schuld getilgt hat, gesandt zu Maria7 , weil ohne Maria weder der Tod gebannt noch das Leben wieder erworben werden kann. So komme denn Maria, so erscheine denn die Trägerin dieses mütterlichen Namens, damit die Menschheit sehe, dass Christus bewohnt habe das geheimnisvolle Innere deines jungfräulichen Schoßes, damit die Toten sich erheben aus den Gräbern und aus der Unterwelt die Verstorbenen erstehen! „Als Jesus“, heißt es, „sah, wie Maria weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, wurde er tief ergriffen und erschüt tert, 'Wohin habt ihr ihn gelegt?' fragte er. Sie antworteten ihm: 'Herr, komm und sieh!' Da brach Jesus in Tränen aus“8 . Es weinte Maria, es weinen die Juden; auch Christus weint! Glaubst du vielleicht aus gleichen Gefühlen? Immerhin mochte Maria als Schwester weinen, weil sie S. 239den Bruder nicht mehr zurückerhalten, dem Tode nicht entgegentreten konn te. Mochte sie auch von der Auferstehung überzeugt sein, so war sie doch des Trostes für die Gegenwart beraubt, und dazu die Länge der Trennung und die Trauer darüber, dass die Trennung so lange währen sollte:sie konnte nicht anders als weinen! Und dazu noch der Anblick des Toten: so schrecklich, so unheimlich, so erschütternd, wenn er auch den Geist ihres Glaubens nicht erschüttern, nicht wanken machen konnte.
Die Juden weinten: sie dachten an ihr [eigenes] Schicksal, sie, die die Hoffnung auf ein zukünftiges Leben gänzlich aufgegeben hatten9 . Der Tod, schon den Lebenden genugsam bitter, der schon genug Verwirrung bringt10 durch sein Dasein allein, er mehrt noch seine Schrecken durch die Mahnung, die er gibt; denn so oft jemand einen Toten erblickt, so oft seufzt er auch, da er erinnert wird an sein eigenes Todesverhängnis; es muß eben jeder Sterbliche sich entsetzen über den Tod! Aber wie kommt es, dass Christus weint? Wenn nichts von alledem für ihn zutrifft, warum weint er denn, er, der gesagt hatte: „Lazarus ist gestorben; ich aber freue mich“?11 . Über seinen Tod freute er sich, und nun seufzt er, wo er ihn auferweckt. Als er ihn verlor, weinte er nicht; nun, wo er ihn wiedererhält, beweint er ihn, vergießt er Todestränen, wo er ihm dem Lebensgeist wieder eingibt! Brüder! Das bringt die menschliche Natur mit sich, dass sie sowohl Tränen der Freude wie der Trauer uns auspreßt. Denn so oft das Herz des Menschen von großer Freude oder Trauer erfüllt ist, brechen gleich die Tränen aus den Augen. Daher hat Christus nicht aus Schmerz über den Tod, sondern in Erinnerung an die Freuden Tränen vergossen, er, der durch sein Wort, durch ein einziges Wort alle Toten zum ewigen Leben auferwecken wird. „Er wurde tief ergriffen“ und S. 240erschüttert durch die große Erregung seines Herzens, dass er bisher nur den Lazarus allein und noch nicht alle Toten auferweckte.
Wer also möchte glauben, dass Christus aus menschlicher Schwachheit hier geweint hätte, wo doch der himmlische Vater über den verschwenderischen Sohn nicht weinte, als dieser wegging, sondern als er ihn wieder in seine Arme nahm?12 . So weinte auch Christus hier, als er den Lazarus wieder empfing, nicht als er ihn verlor; Christus weinte ja überhaupt nicht, als er die andern weinen sah, sondern als er fragte und aus ihrer Antwort erkannte, dass sie keinen Glauben mehr hatten, und sagte: „Wohin habt ihr ihn gelegt?“ Sie antworteten: „Herr, komm und sieh!“ Sie glaubten ja, dass er nicht wisse, wohin er in die Erde gelegt sei, und doch kannte er den Ort, wo ihn die grause Unterwelt festhielt. Durch seine Frage forderte er sie zum Glauben auf, vermittelte ihr Verständnis, damit die Umstehenden wußten, dass weder Tod noch Grab noch Verwesung noch Fäulnis noch Modergeruch eintrete nach göttlicher Anordnung, sondern des Menschen Los geworden sei durch des Menschen Sünde13 . Denn da er fragte: „Wohin habt ihr ihn gelegt?“ schalt er die Frauen, klagte die Frauen an. Er wollte so sagen: Den ich gesetzt habe in das Paradies, in das Land des Lebens, seht, wohin ihr ihn gelegt habt! Aber auch die Juden gaben, als wüßten sie keine Antwort auf seine Frage, zur Antwort: „Herr, komm und sieh!“ Wie? [Ob sie wohl glaubten,] dass er dem Tode gebieten könne? Wie? Dass er der Unterwelt befehlen könne, sie, die doch glaubten, dass er das nicht sehe, was vor aller Augen lag, sie, die über sein Weinen so hin und her redeten: „Hätte der, welcher dem Blinden die Augen öffnen konnte, diesen nicht vor dem Tode bewahren können?“14 . Er konnte ihn vor dem Tode bewahren; aber er ließ ihn sterben, da er den Toten ja wieder erwecken wollte zu seiner Verherrlichung; S. 241er ließ ihn in die Unterwelt hinabsteigen, damit er sich als Gott erweise, wenn er einen Menschen aus der Unterwelt zurückführte.
Aber, ihr Juden! Eure Herzen scheinen fester zu sein als die Riegel der Unterwelt; euer Gemüt scheint härter zu sein als [das Gebein der] Toten; eure Augen scheinen dunkler zu sein als das Grab, da euch die Stimme, die die Unterwelt aufschloß, eure Augen nicht öffnete, da das Machtwort, das den Toten auferweckte, euren Sinn nicht erweckte, da das Licht, das das Grab erleuchtete, eure Blindheit nicht erleuchtete! Doch dies möge uns für jetzt genügen, damit wir [in einer anderen Rede] mit Christus die Herrlichkeit des auferstandenen Lazarus in noch hellerem Lichte betrachten können.
Mt 2,1-12,1-12. Beachte die sonst seltene Steigerung: tenerum stellae lumen tenerioribus oculis assumentes ad cubile Christi tenerrimum pervenerunt. ↩
Joh 11,20 ↩
d. u. für Lazarus: currit pro morte, quae cucurrit ad mortem; gemeint ist Eva. Held übersetzt:beeilt sich wider den Tod. ↩
pervenit praevenit ↩
Joh 11,6 ↩
caput mali; eine dem Chrysologus und anderen Vätern geläufige Auffassung ↩
die Mutter Jesu ist gemeint: die bekannte Spielerei des Redners ↩
Joh 11,33-35 ↩
Der Redner denkt an die Sadduzäer, die die Unsterblichkeit der Seele leugneten ↩
ich lese mit Januel turbet statt turbat entsprechend dem vorhergehenden sit; beide abhängig von cum ↩
Joh 11,14 f. ↩
Lk 15,20 ↩
vgl. Röm 5,12 ↩
Joh 11,37 ↩
