Neunundvierzigster Vortrag: Über die Stelle: „Oder, Brüder, wißt ihr nicht denn ich rede zu solchen, die das Gesetz kennen , dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt?...“ bis: „Denn die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz kamen, waren wirksam in unseren Gliedern, um für den Tod Frucht zu bringen.“ Röm 7,1-5
S. 269Nachdem wir die Davidische Harfe geschlagen haben mit dem Elfenbein der geistigen Erkenntnis und in verschiedenen Melodien haben erklingen lassen1 , nachdem wir so euer Herz und Gemüt gerührt haben, nachdem wir dann auch, um eure Sinne zu wecken, die ehrfurchtgebietenden Hauptlehren des Evangeliums euch dargeboten haben, glaubten wir nunmehr sogleich zu dem apostolischen Lehrer zurückkehren zu müssen, damit so die dreifache Anordnung der Predigt festhalte und darböte die heilsame Wissenschaft der kirchlichen Lehre. Denn der Liedergesang erleichtert den von langer Arbeit müden Geist; das Machtgebot des Evangeliums stärkt und er weckt den Geist zur Arbeit; das gewaltige Wort des Apostels läßt unsere Sinne nimmermehr vom rechten Pfade abweichen und in die Irre gehen. Und so finden wir nach der Reihenfolge heute diese Lesung des heiligen Apostels: „Oder, Brüder, wißt ihr nicht denn ich rede zu solchen, die das Gesetz kennen , dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt?“2 . Und dann führt er ein Gleichnis an: „Denn das vermählte Weib ist durch Gesetz gebunden, solange ihr Mann lebt. Wenn S. 270aber ihr Mann stirbt, ist die vom Gesetze des Mannes entbunden. Demnach wird sie, solangwe der Mann lebt, Ehebrecherin heißen, wenn sie es mit einem andern Manne hält. Wenn aber ihr Mann stirbt, ist sie frei vom Gesetzte des Mannes“3 . Ihr seht hier, Brüder, einen trefflichen Beweis der himmlischen Lehrweise des heiligen Apostels. Denn die Zeiten des Gesetzes erweist er gerade durch die Zeugnisse des Gesetzes als vorüber und entkräftet durch dieses wunderbare Beispiel der Ehe das ganze Vorrecht des Gesetzes. Und ganz zu Recht wird das Gesetz mit einer fleischlichen Ehe verglichen, da es auch nie zu einer geistigen Gemeinschaft mit der Synagoge gelangte. Denn obwohl jenes diese empfing zur Bewahrung der Lehre, zur Fortpflanzung des heiligen Samens, zur Vermehrung der Schamhaftigkeit, zur Bewahrung der Keuschheit, für das heilige und ehrwürdige Geheimnis des himmlischen Brautgemaches, zur mystischen Einheit mit dem Himmel, so fand es doch darin nur den ganzen Unrat der Hurerei.
Denn sie kam diesem Manne, d. i. dem Gesetze, entgegen nicht geziert mit Sittsamkeit, nicht geschmückt mit den Halsketten der Tugenden, nicht mit gemessenem Schritte, nicht bedeckt mit dem leuchtenden Schleier jungfräulicher Schamhaftigkeit, sondern mit wollüstigen Augen, mit ungezügeltem Gange, aufgeputzt mit schminkenden Salben, ganz und gar erfüllt mit Trug und Heuchelei! Obwohl sie nun der erhabene Mann, als er sie erblickte, in gerechter Entrüstung verachtete, sie vertrieb aus seiner Gemeinschaft und sie mit der vollen Strenge des Richters verdammte, so errötete sie doch nicht, wenn sie auch verworfen war, besserte sich nicht, wenn sie auch der Verachtung überantwortet war, kehrte nicht zur Vernunft zurück, sondern hinausgestoßen eilte sie fast in überstürzender Eile zu den schändlichen Diensten der Götzen, ja wollte lieber die Schmach der Hurerei und das Verbrechen des Ehebruches auf sich nehmen, als sich entsetzen vor der Schändlichkeit eines solchen Zustandes, den sie zu ihrem Unheil sich erwählt. Darum S. 271beklagt auch der heilige Prophet sie mit Recht, indem er spricht: „Wie ist zur Hure geworden die treue Stadt Sion?“4 . Ihre Ehebrüche beschreibt auch der hl. Ezechiel fast in einem ganzen Buche. Deshalb, Brüder, wandte der Herr, als, wie das Evangelium berichtet, diese5 Ehebrecherin von den Schriftgelehrten und Gesetzeslehrern bei ihm angeklagt wurde, sein Antlitz zur Seite und blickte zur Erde, um das Verbrechen nicht sehen zu müssen, das er hätte bestrafen sollen, und darum wollte er, Brüder, lieber in den Sand die Vergebung schreiben, als über das Fleisch das Verdammungsurteil aussprechen6 .
Diese Ehebrecherin bemüht sich nun der Apostel zur Gemeinschaft mit Christus zurückzubringen, läßt sie nicht zaudern ob der Furcht ihres ersten Falles; denn wenn sie auch, so lange der Mann lebte, mit Recht eine Ehebrecherin war, indem sie es mit einem andern Manne hielt, so verletzt sie das Gesetz doch jetzt nicht, da sie zu dem Urheber des Gesetzes ihre Zuflucht nimmt. Sie stirbt vielmehr dem Gesetze, obwohl sie verurteilt ist durch die Bestimmungen des Gesetzes, damit sie der Gnade lebe und sich er hebe durch die Vergebung, so wie sie vorher wegen ihrer Unenthaltsamkeit getötet war durch das Gesetz. Wenn schließlich der [Apostel] sie nach dem Tode des Mannes als frei erklärt von dem Gesetze des Mannes, so bekundet er doch durch das folgende, dass sie, und nicht der Mann gestorben sei. Denn nicht stirbt das Gesetz dem Menschen, sondern der Mensch dem Gesetze, und nicht das Gesetz hört auf, sondern der hört für das Gesetz auf, welcher von ihm abfällt. Vernehmet nur, was folgt: „So wurdet auch ihr, meine Brüder, dem Gesetze abgetötet“7 . Sagt er etwa: „Das Gesetz ist für euch getötet“? Nein: „Auch ihr wurdet dem Gesetze S. 272abgetötet.“ Und ganz gut fügt er hinzu; „durch den Leib Christi“8 . Denn das Gesetz erfaßt nur den Schuldigen, bannt nur den Strafwürdigen, straft und tötet nur den Verbrecher. Wer also durch den Leib Christi von jedem Verbrechen befreit und erlöst ist, stirbt zu seinem Glücke dem Gesetz, um nun zu leben der Unschuld und der Gnade. „Damit ihr“, heißt es, „eines andern seid, dessen, der von den Toten auferstanden ist“9 . „Eines andern“: der andere ist jener geworden, als er unsere Verweslichkeit wandelte in Unverweslichkeit, als er unsere Sterblichkeit erhob zur Herrlichkeit der Unsterblichkeit10 .
„Damit wir für Gott Frucht bringen“11 . Die da teilhaftig geworden sind der himmlischen Natur durch Christus, bringen Frucht nach der Behauptung [des Apostels] nicht für die Erde, sondern für Gott, nicht für den Tod, sondern für das Leben, für Gott und nicht für das Fleisch. „Denn da“ heißt es, „wir im Fleische waren, waren die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz kamen, in unsern Gliedern wirksam, um für den Tod Frucht zu bringen“12 . Wenn er sagt: „Da wir waren“, weist er hin auf die Vergangenheit, da wir, nur im Fleische gesetzt oder vielmehr ausgesetzt, gezwungen wurden, zu wissen, zu tun, zu wollen, nur was des Fleisches ist, wie der Apostel an einer andern Stelle sagt: „Die im Fleische sind, können Gott nicht gefallen“13 . „Da wir im Fleische waren, waren die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz kamen...“ Ich will noch erwähnen, was der Herr gesagt hat: „Wenn das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird die Finsternis selbst sein?“14 . Wenn durch das Gesetz die Leidenschaften der Sünden herrschen über die menschlichen Glieder, was werden diese Leidenschaften aus sich erst15 beginnen, die dem kaum geborenen S. 273Menschen zu seinem Unheil und zu seiner Strafe sich zugesellen? Wenn also den eben geborenen Menschen und er wird so geboren die Schmerzen bedrücken, die Gefahren bedrängen, die Strafen erfüllen: die Leidenschaften sind es, Brüder, durch die das Kind geschwächt wird, der Knabe zaudert, der Jüngling wütet, der Mann und der Greis erfüllt wird mit vielen Seufzern. Sie sind es, die das ganze Leben des Menschen begleiten in feindlichem Kampfe bis zu seinem Tode. Das Gesetz hat, indem es sie verbot, nur noch mehr an sie erinnert; indem es sie untersuchte, nur noch vermehrt; indem er sie anklagte, nur noch teurer gemacht, und sie, die der Unwissenheit verborgen lagen, hat es nur zu bekannt gemacht durch den Hinweis darauf. Und gleichwie die Dornen, wenn sie mit dem Messer beschnitten werden, noch mehr wachsen, so wuchern auch die Leidenschaften, wenn sie durch das Gesetz beschnitten werden, nur noch mehr empor, weil sie im Innern des Fleisches, gleichwie in einer Wurzel, fest eingepflanzt sind. Das Gesetz trägt in seinem Innern eine zwar genugsam gerechte Bearbeitungskraft des Glaubens, aber es hat keine Wirkung; daher führt es durch seine Anreizung den Ackerboden des menschlichen Fleisches nur zu der Todesfrucht. Denn es heißt: „Die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz kamen, waren wirksam in unseren Gliedern, um für den Tod Früchte zu bringen.“
Das Werkzeug, das zum Leben war, mißbrauchen die Leidenschaften in uns zur Todesfrucht. Also verwundet werden wir durch die Gnade Christi von dem Gesetze des Todes erlöst, und wir empfangen in unserem Innern den Hl. Geist als Kämpfer und Überwinder der Laster, so dass die Leidenschaften, die draußen ausgeschlossen sind, anklopfen, uns versuchen, uns reizen, aber unterliegen zur Herrlichkeit unserer Siege. Für uns, für uns will den Sieg erringen jener, der, da er herrschte, mit uns zu streiten sich würdigte, wie er selbst gesagt hat16 . Wir also wollen, befreit nunmehr S. 274von der Herrschaft des Fleisches, in dem neuen Geiste dienen, weil ihn Wahrheit herrschen heißt dem Herrn in Heiligkeit zu dienen; denn der alte Mensch und der alte Buchstabe17 vernichtete und zerstörte jegliche Sitte.
der Redner meint vielleicht die Psalemgesänge der eucharistischen Feier, die der evangelischen Lesung voraufgingen, oder die vorher gehaltenen Vor träge über die Psalmen ↩
Röm 7,1 ↩
Röm 6,23 ↩
Is 1,21 ↩
eine ebenso interessante wie willkürliche Erklärung, ganz dem Brauche der Zeit entsprechend ↩
Joh 8,6ff. ↩
Röm 7,4 ↩
Röm 7,4 ↩
ebd ↩
vgl. 1 Kor 15,53 ↩
Röm 7,4 ↩
ebd 7,5 ↩
Röm 8,8 ↩
Mt 6,28 ↩
d. i. ohne die Wirkung des Gesetzes ↩
hier fehlen wohl die bezüglichen Worte der hl. Schrift ↩
Adam und das Gesetz der Juden ↩
