14. Kapitel: Der Apostel Paulus schreibt zwar dem Glauben und nicht den Werken die Rechtfertigung zu; aber er meint die Werke, die dem Glauben vorausgehen, und einen Glauben, der durch die Liebe tätig ist. Schon die Apostel Jakobus und Petrus sind einer falschen Auffassung der paulinischen Lehre entgegen getreten
S. 34521. Aus diesem Grunde müssen wir noch einen Irrtum ins Auge fassen, der aus dem Herzen der Gläubigen gerissen werden muß; sonst setzen sie etwa gar in falscher Sicherheit ihr Heil dadurch aufs Spiel, daß sie zu dessen Erlangung vielleicht den Glauben1 schon für genügend halten und deshalb ein gutes Leben und die Bewahrung des Weges Gottes durch gute Werke vernachlässigen. Haben ja doch manche auch schon zur Zeit der Apostel einige dunkle Aussprüche des Apostels Paulus nicht verstanden und gemeint, er sage: „Laßt uns Böses tun, damit Gutes daraus erwachse2 .“ Er hatte nämlich gesagt: „Das Gesetz trat dazwischen, damit die Sünde überströme. Wo aber die Sünde überströmt, da strömt auch die Gnade über3 .“ Das ist insoferne wahr, weil die Menschen nach Empfang des Gesetzes in stolzer Überhebung auf ihre eigene Kraft bauten und nicht durch den rechten Glauben den göttlichen Beistand zur Besiegung böser Begierden erlangten, weshalb sie auch noch durch Übertretung des Gesetzes mit mehreren und schwereren Vergehen belastet wurden. Und so nahmen sie denn im Bewußtsein ihrer großen Schuld ihre Zuflucht zum Glauben, um durch ihn Barmherzigkeit und Verzeihung zu erlangen und „Hilfe vom Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat4 “. Nachdem so die Liebe durch den Heiligen Geist S. 346in ihr Herz ausgegossen war5 , wollten sie im Geiste der Liebe das tun, was sie gegen die Begierlichkeit dieser Welt tun mußten. In diesem Sinne war es schon im Psalm vorhergesagt worden: „Ihre Schwächen waren zu zahlreich geworden, deshalb kamen sie herbeigelaufen6 .“ Wenn also der Apostel sagt, er sei der Ansicht, der Mensch werde gerechtfertigt durch den Glauben ohne die Werke des Gesetzes, so meint er das nicht so, daß nach Erlangung und Bekenntnis des Glaubens die Werke der Gerechtigkeit verachtet werden, sondern daß jeder wisse, er könne durch den Glauben gerechtfertigt werden, auch wenn die Werke des Gesetzes nicht vorausgegangen sind; denn diese Werke folgen der Rechtfertigung nach, gehen ihr aber nicht voraus. — Ich habe jedoch nicht nötig, mich in diesem Buch näher hierüber zu verbreiten; denn ich habe über diese Frage erst jüngst ein ausführliches Buch herausgegeben unter dem Titel „Vom Buchstaben und vom Geist7 “.
Weil aber diese [falsche] Ansicht schon damals entstanden war, so richten sich andere apostolische Briefe eines Petrus, Johannes, Jakobus und Judas vornehmlich gegen eine solche Auffassung und betonen nachdrücklich, daß der Glaube ohne die Werke nichts helfe. Aber auch Paulus selbst hat nicht jeden beliebigen Glauben an Gott für heilsam und echt evangelisch erklärt, sondern nur einen solchen, dessen Werke aus der Liebe hervorgehen. „Und der Glaube,“ sagt er, „der durch die Liebe wirksam ist8 .“ So wenig nützt also, wie er versichert, der Glaube, der einigen zum Heile zu genügen scheint, daß er sogar sagt: „Hätte ich alle Glaubenskraft, daß ich Berge versetzen könnte, S. 347fehlte mir aber die Liebe, so wäre ich nichts9 .“ Wo aber gläubige Liebe wirksam ist, da lebt man ohne Zweifel gut. „Denn die Liebe ist die Fülle des Gesetzes10 .“
22. In seinem zweiten Brief gibt Petrus ganz klare Ermahnungen zur Heiligkeit des Lebens und der Sitten; er kündet hier an, daß diese Welt vergehen wird, daß aber ein neuer Himmel und eine neue Erde11 in Aussicht stehen als Wohnung für die Heiligen; um nun dieser Wohnung würdig zu werden, sollen die Leser auf die Art ihrer Lebensführung acht geben. Da aber nun Petrus wußte, daß einige ruchlose Menschen gewisse dunkle Stellen des Apostels Paulus als Vorwand benützt hatten, um sich um ein gutes Leben nicht mehr kümmern zu müssen, da sie ja wegen ihres Glaubens betreffs ihres Heiles in Sicherheit seien, so sagte er, es gebe in den Briefen des heiligen Paulus einige sehr schwer verständliche Stellen12 , die diese Leute zu ihrem eigenen Verderben verkehrt auffaßten; geradeso machten sie es auch mit den anderen Schriften. Und doch dachte jener Apostel über das ewige Heil, das nur denen gegeben werde, die ein gutes Leben führen, geradeso wie die übrigen Apostel. Folgendermaßen heißt es bei Petrus: „Wenn sich nun aber dieses alles13 über kurz oder lang auflösen wird, wie müßt ihr euch dann jetzt verhalten? Bleibt immer so heilig und fromm, daß ihr die Ankunft des Tages Gottes furchtlos erwarten, ja herbeisehnen könnt! Da werden die Himmel im Feuer vergehen und schmelzen die lodernden Elemente. Wir hoffen aber alsdann nach der Versicherung des Herrn auf neue Himmel und auf eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Da ihr nun dieses erwartet, Geliebte, so bestrebt euch, in Frieden mit Gott und den Menschen zu leben, damit ihr rein und tadellos vor ihm erfunden S. 348werdet! Benützet die Langmut des Herrn in bußfertigem Sinn zu eurem Heile! Das hat ja auch unser lieber Bruder Paulus nach der ihm verliehenen hohen Weisheit an euch geschrieben. Er mahnt uns zur Buße in allen Sendschreiben, in denen er von den letzten Dingen redet. Freilich ist manches in seinen Briefen schwer verständlich; Unkundige und Leichtfertige verdrehen und mißdeuten es zu ihrem Verderben. Ebenso machen sie es auch mit den übrigen heiligen Schriften. Weil ihr es nun voraus wißt, Brüder, so hütet euch, durch die Vorspiegelungen der Ruchlosen euch fortreißen zu lassen und, durch den Irrtum verführt, abzufallen vom Glauben, an dem ihr bisher so treu festgehalten habt! Wachset vielmehr in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus! Ihm sei die Ehre jetzt und immerdar14 !“
23. Jakobus aber tritt denen, die meinen, der Glaube ohne die Werke vermöge etwas zum Heile, so schroff gegenüber, daß er sie selbst mit den Teufeln vergleicht; er sagt nämlich: „Du glaubst, daß es einen Gott gibt! Da tust du gut daran. Aber auch die Teufel glauben und zittern15 .“ Wie hätte er sich kürzer, wahrer und schroffer ausdrücken können? Lesen wir ja doch auch im Evangelium, daß die Teufel Christus als den Sohn Gottes bekannt haben und doch wurden sie von diesem darob getadelt, während Petrus für das gleiche Bekenntnis sein Lob erntete16 . „Was wird es nützen, meine Brüder,“ sagt Jakobus, „wenn einer zwar sagt, er habe den Glauben, wenn er aber keine Werke hat? Wird dieser Glaube ihn retten können17 ?“ Desgleichen sagt er: „Der Glaube ohne Werke ist tot18 .“ Wie lange täuschen sich also jene noch, die nur einen toten Glauben haben und sich doch das ewige Leben versprechen?
allein ↩
Röm. 3,8. ↩
Ebd. 5, 20: Durch den Erlaß des mosaischen Gesetzes, das zwischen unserm ersten [Adam] und zweiten [Christus] Stellvertreter in die Geschichte eintrat, mehrte sich naturgemäß wegen der Hinneigung des Menschen zum Verbotenen die Sünde. Jedoch jedes Maß der Sünde ist durch die Gnade überboten. ↩
Ps. 120,2. ↩
Röm. 5,5. ↩
Ps. 15,4. ↩
Gerade diese Schrift des hl. Augustinus „De littera et spiritu“ haben Melanchthon in der Augsburger Konfession und nach ihm noch viele andere als Beleg für die Übereinstimmung der lutherischen mit der augustinischen Rechtfertigungslehre herbeiziehen zu können geglaubt. ↩
Gal. 5,6. ↩
Vgl. 1 Kor. 13,2. ↩
Röm. 13,10. ↩
2 Petr. 3,12. ↩
Ebd. 3,16. ↩
Nämlich die ganze sichtbare Welt. ↩
2 Petr. 3,11ff. ↩
Jak. 2,19. ↩
Bekenntnis der Teufel: Matth. 8,29; Mark. 1,24; Luk. 4,41. Lob des Petrus: Matth. 16,15 ff. ↩
Jak. 2,14. ↩
Ebd. 2,20. ↩
