4. Kapitel: Ungesunde Übertreibung richtiger Grundsätze war schon oft die Ursache von Irrlehren
5. Menschen, die das rechte Maß nicht einzuhalten wissen, geraten auf Irrwege, und wenn sie einmal einseitig abschüssige Bahnen zu betreten angefangen haben, dann schauen sie gar nicht mehr auf die Beweisstellen der Heiligen Schrift; und doch bekämen sie S. 322dadurch die Möglichkeit, von ihrer falschen Meinung abzukommen und sich einer aus den dafür und dagegen sprechenden Schriftworten gemischten Wahrheit und Mäßigkeit zu erfreuen. Dies gilt nicht bloß von der eben angeregten Frage, sondern auch noch von vielen anderen.
Manche sahen z. B. nur auf diejenigen Stellen der Heiligen Schrift, welche die Verehrung des einen Gottes einschärfen und hielten die Person, die nur Sohn ist, zugleich auch für den Vater und den Heiligen Geist1. Andere wiederum litten sozusagen an der gegenteiligen Krankheit: sie achteten nur auf diejenigen Schriften, worin die Dreiheit der Personen erklärt wird, konnten aber nicht verstehen, wie es denn nur einen Gott geben könne, während doch der Vater nicht der Sohn und der Sohn nicht der Vater und der Heilige Geist weder Vater noch Sohn sei. Sie glaubten darum auch eine Verschiedenheit im Wesen behaupten zu müssen2. — Es gab dann auch solche, die auf jene Stellen der Heiligen Schrift schauten, die ein Lob der Jungfräulichkeit enthielten: solche Leute verwarfen natürlich die Ehe3. Andere hinwieder hatten es auf diejenigen Zeugnisse abgesehen, durch welche die Keuschheit der Ehe gerühmt wird, und hielten Ehestand und Jungfräulichkeit für gleichwertig4. — Da einige lasen: "Es ist gut, Brüder, kein Fleisch zu essen und keinen Wein zu trinken5 " und einiges Ähnliche, so hielten sie das von Gott Geschaffene, und beliebige Speisen für unrein6 Andere S. 323dagegen lasen: „Alles was Gott geschaffen hat, ist gut und nichts von dem darf man verwerfen, was mit Danksagung genossen wird7 ": und darum ließen sie sich zu Gefräßigkeit und Trunksucht hinreißen; denn sie vermochten sich von den einen Lastern nicht frei zu halten ohne daß nicht auf der anderen Seite ebenso große, ja vielleicht noch größere an ihre Stelle traten.
6. Auch in dem Falle, den wir gerade behandeln sehen manche nur auf jene strengen Gebote, die uns ermahnen, Ruhestörer zurechtzuweisen, das Heilige nicht den Hunden vorzuwerfen, einen Verächter der Kirche den Heiden gleichzuachten und ein Glied, das uns ärgert, von der Verbindung mit dem Körper zu trennen8. Solche Leute bringen aber Unruhe in die Kirche, da sie schon vor der Zeit das Unkraut aussondern wollen und so blind in ihren Irrtum verrannt sind, daß sie sich lieber selbst von der Einheit mit Christus trennen. Dieser Fall liegt beispielsweise in unserm Streit gegen das Schisma des Donatus9 vor: wir meinen dabei nicht diejenigen Donatisten, die es mit dem durch unwahre und verleumderische Beschuldigungen angegriffenen [Bischof] Caecilianus10 halten und nun aus todbringender Scham ihre verderbliche Ansicht nicht aufgeben wollen, sondern wir meinen jene Donatisten, denen wir zurufen dürfen: "Selbst wenn diejenigen wirklich böse gewesen wären, deretwegen ihr euch von der Kirche getrennt habt, so hättet ihr doch jene, die ihr weder bessern noch auch aus der Kirche ausschließen konntet, ertragen sollen und selber in der Kirche bleiben müssen." S. 324So aber gleichen sie ungestümen Eiferern, die das Unkraut schon vor der Reife des Getreides absondern wollten und die wegen dieses Übereifers sich sogar von ihren geduldigeren Mitbrüdern trennten.
Wieder andere laufen von der entgegengesetzten Seite her Gefahr: Sie wissen gar wohl, daß die Vermischung der Guten und Bösen in der Kirche uns deutlich vorhergesagt ist und sie kennen auch die Gebote der Geduld, "die uns so stark machen, daß wir trotz des Unkrautes, das sich in unserer Kirche zeigt, in unserem Glauben und in unserer Liebe doch nicht behindert werden und nicht wegen des Unkrautes, das wir in der Kirche wahrnehmen, unsererseits selbst die Kirche verlassen11 ". Sie sind aber der Ansicht, es müsse überhaupt eine völlige Umgestaltung12 der kirchlichen Disziplin eintreten und räumen darum den [kirchlichen] Vorstehern eine ganz verkehrte Sicherheit ein: deren einzige Aufgabe soll es nämlich sein, einfach zu sagen, was man allgemein zu tun und zu lassen habe; was aber der einzelne Christ tue, das gehe sie gar nichts an13.
Dies taten die Patripassianer und Sabellius; vgl. Pohle, Lehrbuch der Dogmatik, I. Bd., 1911 \ S. 306 ff. ↩
Dies taten die Subordinatianer, vor allem Arius [vgl. die Lehre des Macedonianismus und der Pneumatomachen]. Siehe Pohle, a.a.O. S. 310 ff. ↩
Nämlich die Eustathianer und Manichäer; selbst der hl. Hieronymus hält sich im Kampf für die Jungfräulichkeit nicht von Übertreibungen frei. ↩
Vertreter dieser Ansicht waren vor allem die Gegner des hl. Hieronymus: Helvidius, Jovinian und Vigilantius. [Vgl. die Übersetzung der Werke des hl. Hieronymus in unserer Sammlung!] ↩
Röm. 14,21. ↩
Augustinus dachte als ehemaliger Manichäer wohl zunächst an diese Sekte. ↩
1 Tim. 4,4. Vgl. z.B. die vom hl. Hieronymus so genannten Culinarier. ↩
1 Thess. 5,14; Mark. 7,27; Matth. 18,17; 5,29. ↩
Gemeint ist Donatus der Große, der Organisator des donatistischen Schismas. ↩
Dem rechtmäßigen Bischof Caecilianus warf die Partei der Lucilla vor, er habe in der Zeit der diokletianischen Verfolgung die gefangenen Christen zu hart behandelt. ↩
Cyprian, ep. 51 ad confessores de schismate reveraoe. ↩
Wir haben hier eine schwankende Leseart; die Handschriften geben „destituendam", was ich durch meine Übersetzung ausgedrückt zu haben glaube. Die Herausgeber lesen aber meistens „instituendam" und denken dabei an die neue Belehrung der Kirche durch Laien. ↩
Sie sind also nur doctores, aber nicht pastores, noch viel weniger iudices ihrer Gemeinde; sie haben also überhaupt kein Recht, darüber zu bestimmen, ob jemand aus der Kirche ausgeschlossen werden soll oder nicht. ↩
