2. Auch die Häretiker sind nicht so schuldig wie die Rechtgläubigen
Wir haben oben zwei Arten oder Abteilungen von Barbaren unterschieden: die Heiden und die Häretiker. Da wir aber über die Heiden meiner Meinung nach genügend gehandelt haben, wollen wir auch, wie die Sache verlangt, die Häretiker einer Erörterung unterziehen. Denn es könnte jemand sagen: Wenn das göttliche Gesetz auch von den Heiden nicht verlangt, Gebote zu erfüllen, die sie nicht kennen, so verlangt es das doch von den Häretikern, da diese die Vorschriften kennen. Denn jene läsen das gleiche wie wir, bei ihnen gebe es die gleichen Propheten Gottes, dieselben Apostel, dieselben Evangelisten; deshalb werde das Gesetz von ihnen nicht weniger vernachlässigt als von uns, ja sogar noch viel mehr. Denn da sie die gleichen Vorschriften läsen wie unsere Leute, handelten sie doch viel schlimmer als wir. Du sagst also, jene läsen das gleiche wie wir. Wie soll das das gleiche sein, was einstmals von schlechten Schriftstellern böswillig verunechtet und schlecht überliefert worden ist? Und deswegen lesen sie schon nicht das gleiche, weil das keineswegs das gleiche genannt werden kann, was in irgendeinem wesentlichen Teil verfälscht ist. Denn was die Vollständigkeit verloren hat, besitzt auch keine Unversehrtheit mehr; und was der Kraft der göttlichen Geheimnisse beraubt ist, bewahrt in keiner Weise sein eigentliches Wesen. Nur wir haben daher die heiligen Schriften vollständig, unverletzt, unversehrt, wir, die wir sie an der Quelle trinken oder sie, aus reinstem Born geschöpft, vermittelst einer unverfälschten Übertragung in uns aufnehmen; nur wir lesen sie gut. Und wenn wir sie doch so gut erfüllen würden, wie wir sie lesen! Doch ich fürchte, daß wir S. 153 das, was wir nicht gut beobachten, auch nicht gut lesen, weil es ein geringeres Vergehen ist, Heiliges nicht zu lesen, als das Gelesene zu übertreten. Die übrigen Völker haben das Gesetz Gottes nämlich überhaupt nicht, oder es ist abgeschwächt und tödlich getroffen. Und deswegen haben die, die ein solches Gesetz haben, überhaupt keines. Und wenn es einige Barbarenvölker gibt, die scheinbar in ihren Büchern die Heilige Schrift weniger verfälscht und verstümmelt besitzen, so ist sie doch durch die Überlieferung ihrer früheren Lehrer verdorben; und deshalb haben sie mehr die Überlieferung als die Schrift selbst, weil sie nicht das festhalten, was die Wahrheit des Gesetzes ihnen rät, sondern was eine verdorbene, schlechte Überlieferung hineingelegt hat. Die Barbaren, die römischer, ja sogar menschlicher Bildung bar sind, die überhaupt nichts wissen, als was sie von ihren Lehrern hören, befolgen das, was sie hören; und so müssen sie, die, unkundig aller Lesekunst und Wissenschaft, das Geheimnis des göttlichen Gesetzes mehr durch die Lehre als durch eigene Lektüre aufnehmen, auch mehr die Lehre behalten als das Gesetz selber. Deshalb ist für sie die Überlieferung ihrer Lehrer und deren eingewurzelte Lehre soviel wie das Gesetz, weil sie nur das wissen, was sie gelehrt werden. Häretiker sind sie daher, aber ohne es zu wissen. Nach unserer Meinung sind sie Häretiker, nach der ihren sind sie es nicht. Denn so sehr halten sie sich für katholisch, daß sie sogar uns mit dem Namen Häretiker beschimpfen. Was daher jene für uns sind, das sind wir für sie. Wir sind sicher, daß sie der göttlichen Zeugung eine Schmach antun, wenn sie sagen, der Sohn sei geringer als der Vater. 1Jene meinen, wir beleidigen den Vater, weil wir beide für gleich halten. Bei uns ist die Wahrheit, aber jene behaupten zuversichtlich, sie seien in ihrem Besitz. Wir ehren Gott; aber jene meinen, ihr Glaube ge- S. 154 reiche Gott zur Ehre. Sie erfüllen ihre Pflicht nicht; doch halten sie das für höchste religiöse Pflichterfüllung. Sie sind gottlos, aber halten das für wahre Frömmigkeit. Sie irren also, aber guten Glaubens, nicht aus Haß gegen Gott, sondern aus Liebe zu ihm; denn sie glauben, daß sie Gott ehren und lieben. Obwohl sie nicht den rechten Glauben haben, halten sie das doch für die vollkommene Liebe zum Herrn. Inwieweit sie für diesen Irrtum und diese falsche Meinung am Tage des Gerichtes Strafe verdienen, kann niemand wissen außer der Richter. Inzwischen aber behandelt sie Gott, wie ich glaube, mit Geduld, weil er sieht, daß sie zwar nicht den rechten Glauben haben, doch in der Liebe eines frommen Wahnes irren, besonders aber, da er weiß, daß sie aus Unkenntnis sündigen, während die Unsrigen die Vorschriften ihres Glaubens vernachlässigen. Und so sündigen jene durch die Schuld ihrer Lehrer, die Unsrigen durch ihre eigene; jene in Unkenntnis, diese mit Wissen; jene tun, was sie für recht halten, die Unsrigen das, was sie als verkehrt erkannt haben. Und deshalb erträgt Gott jene nach seinem gerechten Urteil in Geduld, uns züchtigt er mit Strafe; denn der Unwissenheit kann bis zu einem gewissen Grade verziehen werden, die Verachtung verdient keine Nachsicht. So nämlich steht geschrieben: "Ein Knecht, der den Willen seines Herrn nicht kennt und ihn nicht tut, wird nur wenig gezüchtigt. Wer ihn aber kennt und nicht tut, wird viel gezüchtigt." 2
