1. Nicht das Gesetz, sondern dessen Übertretung ist verderblich
Ich weiß, daß gerade die Ungläubigsten und Unfähigsten, die göttliche Wahrheit aufzunehmen, meinen Darlegungen entgegenhalten können: Wenn die Schuld der ungläubigen Christen so groß sei, daß sie mehr sündigen, indem sie die Gebote des Herrn, die sie kennen, nicht beachten, als heidnische Völker, die sie nicht kennen, so wäre für diese ihre Unwissenheit heilsamer als die Erkenntnis gewesen; und gegen sie spräche eigentlich nur die Tatsache, daß sie die Wahrheit erkannt haben. Darauf ist zu sagen, daß ihnen nicht die Wahrheit schadet, sondern ihre Laster, nicht das Gesetz, sondern ihre Sitten. Setze dagegen gute Sitten voraus, und die Gesetzesvorschriften sind für uns. Nimm die Laster weg, und das Gesetz nützt uns. Wir wissen nämlich, sagt der Apostel, daß das Gesetz gut ist, wenn es richtig angewendet wird. Wende daher das Gesetz richtig an und du hast selbst das Gesetz gut gemacht. „Wir wissen„, heißt es, „daß das Gesetz gut ist, wenn man es rechtmäßig anwendet, bedenkend, daß das Gesetz nicht für den Gerechten gegeben ist.“ 1Deshalb fange an, gerecht zu sein, und du wirst frei vom Gesetz sein; denn das Gesetz kann nicht gegen die Sitten aufstehen, weil es in den Sitten seinen Halt hat. „Denn wir wissen„, heißt es, „daß das Gesetz gut ist, wenn man es rechtmäßig anwendet, bedenkend, daß das Gesetz nicht für den Gerechten gegeben ist, sondern für die Ungerechten und S. 151 die Widerspenstigen, für die Verbrecher und Gottlosen und Sünder und wider alles, was sonst noch gegen die gesunde Lehre verstößt.“ 2Deswegen, o Mensch, ist nicht so sehr das Gesetz dir feindlich, als du dem Gesetz; und das Gesetz handelt durch seine guten Vorschriften nicht dir zuwider, sondern du handelst gegen das Gesetz durch dein schlechtes Leben. So ist also das Gesetz für dich, du aber gegen das Gesetz. Das Gesetz sorgt für dich, indem es Heiliges lehrt; du trittst gegen dasselbe auf, indem du Schlechtes tust; und zwar nicht nur gegen das Gesetz trittst du auf, sondern auch gegen dich. Deswegen nämlich handelst du gegen das Gesetz und gegen dich, weil in ihm dein Heil und dein Leben liegt. Und darum gibst du dein eigenes Heil preis, wenn du dich von dem Gesetz wendest. Unsere Klage über das göttliche Gesetz ist nichts anderes als die Klage eines ungeduldigen Kranken über den besten Arzt, wenn er durch seine Schuld seine Krankheit vergrößert und dann die Unerfahrenheit des Arztes beschuldigt. Gerade als ob durch Vorschriften irgendeine Krankheit geheilt werden könnte, wenn der Kranke ihnen nicht gehorcht; oder als wenn die vom Arzt befohlene Lebensweise jemand heilen könnte, wenn der Leidende selbst sie nicht einhält. Was hilft dem Magen Absinth, 3wenn sofort wieder Süßigkeiten darauf folgen? Was nützt dem Wahnsinnigen das Stillschweigen seiner Umgebung, wenn sein eigenes Geschrei ihn tötet? Und was kann ein Gegengift einem nützen, wenn sofort wieder Gift nachgeschüttet wird? Und für uns ist das Gesetz das Gegengift, unsere Lasterhaftigkeit aber das Gift. Das Gegengift des Gesetzes kann uns nicht heilen, weil uns das Gift unserer Laster tötet. Aber wir haben darüber S. 152 schon früher genug gesagt und werden, wenn das Thema es verlangt, mit der Hilfe des Herrn auch später noch davon sprechen.
